Rezension

Emotionales Buch über körperliche und seelische Narben

Sieh mich an - Erin Stewart

Sieh mich an
von Erin Stewart

Bewertet mit 5 Sternen

Ava hat mit 16 Jahren durch ein Feuer alles verloren, was ihr wichtig war: Ihre Familie, ihre Cousine und gleichzeitig beste Freundin Sara, ihr Zuhause und letztendlich auch ihr Gesicht und das ihr bis dahin bekannte Aussehen. 60% ihres Körpers wurden verbrannt. Deshalb ist sie von Narben übersät. Sie hat ein sehr schwieriges und schmerzhaftes Jahr hinter sich, sowohl psychisch als auch physisch. Ihre Tante und ihr Onkel, bei denen sie nun lebt, haben zusammen mit ihrem Arzt und ihrer Therapeutin beschlossen, dass es an der Zeit ist zur Highschool zurückzukehren. Für Ava ist das der Super-GAU, denn sie kennt die Blicke und Sprüche, die auf die zukommen. Sie selber kann sich kaum im Spiegel anschauen, denn sie meint, dass sie aussieht wie ein  Monster. Doch dann trifft sie auf Asad und Piper, die beide so ganz anders sind als erwartet.

Bereits auf den ersten Seiten wird der Leser auf die Probe gestellt. Ava beschreibt dort ihr Aussehen und teilweise auch die OPs, die sie über sich hat ergehen lassen müssen. Das Ganze kommt so plastisch und authentisch rüber, dass es kaum zu ertragen ist. Sie tut einem unheimlich Leid, weil man eben auch merkt, wie es um ihr Selbstbild und ihr Selbstbewusstsein bestellt ist. Am Liebsten würde sie sich in ihr Zimmer zurückziehen und nie mehr das Haus verlassen. Sie kann es nicht ertragen von anderen begafft zu werden oder als "Überlebende", "Vorbild" oder "Inspiration" bezeichnet zu werden. Sie selber sieht in sich nichts davon. Sie wünscht sich verzweifelt ihr altes Leben zurück und möchte wieder die Ava von vor dem Brand sein. Doch leider ist das nicht möglich. Sie ist der Meinung, dass von ihr selber nichts mehr übrig geblieben ist und sie jetzt nur noch "das verbrannte Mädchen" ist, welches nichts zu bieten hat.

Man merkt, dass Erin Stewart sich eingehend mit dem Thema Brandverletzung, Hauttransplantation, Nachsorge/ Therapie und auch der seelischen Verfassung der Opfer/ Überlebenden beschäftigt hat. Diese medizinischen und psychologischen Aspekte werden ziemlich gut recherchiert und authentisch beschrieben.

So traurig und tragisch ihre Geschichte ist und obwohl sie kaum mit der Situation zurecht kommt, legt Ava trotzdem eine Menge Sarkasmus und schwarzen Humor an den Tag. Das und vieles andere macht sie einem direkt sympathisch. Man kann sich gut in ihre Gedanken- und Gefühlswelt hineinversetzen. Spannend fand ich auch, dass Ava immer wieder Einträge in ihr Therapietagebuch macht. Diese wirken fast wie Rückblicke, welche von der schicksalhaften Nacht, über die Zeit der Genesung bis hin zur Gegenwart reichen. 

"Sieh mich an" ist ein trauriges, emotionales und tiefgründiges Buch über Freundschaft, Familie, Verlust und Trauer. Es regt zum Nachdenken an und führt einem wieder mal vor Augen, was im Leben wichtig ist und wie glücklich man sich schätzen kann, wenn man gesund ist und all seine Lieben noch um sich hat. All das kann sich von der einen auf die andere Sekunde ändern. Das Buch zeigt außerdem, dass jeder Mensch Narben hat, dass man manche davon aber nicht unbedingt sehen kann. Ein perfektes Äußeres bedeutet nicht, dass der Mensch keine seelischen Narben hat. Innerlich sieht es oft viel wüster aus als man denkt. Das Äußere ist nicht das, was im Leben zählt und einen Menschen liebenswert macht. Wichtig sind doch die inneren Werte, die Meinung oder das Verhalten. 

Trotz all dieser ernsten und wichtigen Themen, ist das Buch aber auch oft sehr humorvoll und lässt einen schmunzeln. Man schließt Ava, Asad und Piper sofort in sein Herz. Die drei sind wirklich ganz besondere Charaktere. Grade Ava macht im Verlauf des Buches eine bewundernswerte Entwicklung durch. 

Für mich ist dieses Buch definitiv eines meiner Jahres-Highlights. Es ist der Weg eines körperlich und seelisch gezeichneten Mädchens, welches langsam wieder zurück ins Leben findet. Wer beispielsweise auch "Wunder" mochte, wird diese Geschichte lieben!