Rezension

Entwicklungsroman mit Kriminalfall - oder Krimi mit Heranwachsenden?

Die Tankstelle von Courcelles - Matthias Wittekindt

Die Tankstelle von Courcelles
von Matthias Wittekindt

Bewertet mit 4.5 Sternen

Ende der 70er des vorigen Jahrhunderts streift  das Mädchen Lou in einem  faulen Sommer mit dem Rad herum. Doch die Idylle wird bald ihr Ende finden. Lous  Heimatort in den Vogesen hat einen wirtschaftlichen Abstieg hinter sich, seit die ehemals florierenden Kurkliniken nicht mehr belegt sind. Von Lou noch unbemerkt, baut sich im Ort eine Atmosphäre des Unbehagens auf. Auswärtige Autos parken mit unbekanntem Zweck und ab und zu werden dunkelhaarige Menschen mit lockigem Haar beobachtet. Lous Stiefvater sorgt sich um sie; sie soll bitte vorsichtiger im Straßenverkehr sein und sich vom Maisfeld fernhalten, wo sie offenbar gesehen worden ist. Lous Entwicklung vom unbeschwerten Kind zur kritischen Jugendlichen vollzieht sich in ihren wechselnden Freundschaften, die sie bemerkenswert  eigennützig schließt. 1986, im Jahr vor dem Abitur, hängt Lou hauptsächlich  mit Julien und Philippe herum. Die drei  stellen  existenzielle Überlegungen an in Richtung Armut und Befreiung von etwas, das sie vor dem Unterricht bei ihrem  Lehrer M.  Theron noch nicht spürten. Theron konfrontiert seine Schüler mit harscher Gesellschaftskritik, die allerdings in einem strukturschwachen Ort herablassend und seltsam weltfremd wirkt. Theron kann nur an das Gute – und die Revolution – glauben, solange er die Menschen im Ort und ihre Arbeitsbedingungen noch nicht kennt, stellen die Jugendlichen nüchtern fest. In ihr neues revolutionäres Weltbild passt nur schwer der profane Zwang zum Geldverdienen, um eigene Wünsche zu erfüllen. Auf Julien wirkt Therons Unterricht spürbar, er reflektiert seitdem seine Ziele und Wünsche.

Das zunehmende Unbehagen im Ort verdichtet sich zu einer Szene mit Todesopfern an der Tankstelle des Ortes (die Lous Stiefvater gehört). Ein noch sehr junger Ermittler versucht im Rückblick die Ereignisse aufzulösen. Obwohl rein hierarchisch die Police National für den Fall zuständig ist, zeigt Ohayon sein besonderes Talent, die Leute einfach reden zu lassen, bis sie von selbst zum Kern der Sache kommen. Der junge Gendarm kann schließlich einen Verkehrstoten, mehrere Fahrzeuge und ein Beweismittel einander zuordnen. Damit ist allerdings die moralische Verantwortung für das Geschehen innerhalb der Dreierclique längst nicht geklärt.

Der letzte Sommer, bevor sich alte Freunde trennen, und der letzte Abiturjahrgang, bevor das Gymnasium endgültig geschlossen wird, vermitteln hier eine ganz eigene Melancholie. Wittekind beobachtet Heranwachsende in der französischen Provinz in wechselnden Konstellationen, Auseinandersetzungen um Macht und Einfluss, aber auch gewachsene Kontakte im Ort. Er beschreibt Wahrnehmungen, die den jeweiligen Beobachtern erst rückblickend bewusst werden, und fragt nach Verantwortung. Hätten Erwachsene vorher aufmerksam werden müssen?