Rezension

Erfrischendes, geheimnisvolles, vielschichtiges Romandebüt, das einen unheimlichen Sog ausübt!

Das flüssige Land - Raphaela Edelbauer

Das flüssige Land
von Raphaela Edelbauer

~ „Das flüssige Land“ hat mir gezeigt, dass man ein Buch nicht zu schnell abbrechen sollte, weil man sonst sein nächstes Lieblingsbuch verpassen könnte. Die nur langsam in Schwung kommende Geschichte und der ungewöhnliche Schreibstil machten mir den Einstieg schwer. Ab dann habe ich mich jedoch mit jeder Seite mehr in dieses Buch verliebt! Der Schreibstil ist sehr anspruchsvoll: Die Sätze der Autorin sind oft lang und komplex, gerne verschachtelt und meist sehr reich an Metaphern. In manchen Momenten war es mir zu viel des Guten, meist jedoch war ich sehr angetan. Das Buch enthält viele wunderschöne, poetische Stellen, subtilen Humor und hat auch eine gewisse österreichische Note. Auch inhaltlich kann es überzeugen: Raphaela Edelbauer hat einen erfrischenden, ungewöhnlichen und faszinierenden Roman geschrieben, der gleichzeitig zum Nachdenken anregt, gekonnt unterhält, spannend wie ein Krimi ist und viel Raum für Interpretationen lässt. Großartig fand ich auch das seltsame und gleichzeitig faszinierende Setting und das vollkommen absurde Verhalten der BewohnerInnen von Groß-Einland. Tiefgründig beschäftigt sich die Autorin mit Themen wie Familie, Heimat und der Kultur des Vergessens, Verdrängens und absichtlichen Vertuschens von Kriegsverbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus. Nur die Offenheit des Romans lässt mich zwiespältig zurück: Einerseits hätte ich mir vor allem am Ende mehr Antworten gewünscht, andererseits schätze ich aber auch gerade, dass vieles im Roman vage bleibt und nicht aufgelöst wird. Die Figuren sind meiner Meinung wunderbar gelungen und wirkten auf mich sehr eigenwillig, interessant, komplex und authentisch. Ruth fand ich als Protagonistin und Frau der Wissenschaft mit scharfem Verstand, die trotzdem in den Sog der Gemeinde gerät und nach und nach jedes Zeitgefühl zu verlieren scheint, ebenfalls sehr gelungen. Nach dem zähen Einstieg hat „Das flüssige Land“ auf mich einen starken Sog ausgeübt. Die unheimliche, mysteriöse, teilweise kafkaeske Stimmung und die subtile Spannung, die das Buch durchziehen, haben mich gefesselt und mich die Seiten immer schneller umblättern lassen. Meine Empfehlung: Wer einem anspruchsvollen Schreibstil und offenen Enden wenig abgewinnen kann, wird an diesem Roman keinen Gefallen finden. Alle anderen sollten dem Ruf Groß-Einlands aber unbedingt folgen. Lasst euch vom Sog, den diese Geschichte ausübt, mitreißen – aber passt auf, dass ihr dabei nicht vollkommen euer Zeitgefühl verliert! ~

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!

Inhalt

Nach dem plötzlichen Unfalltod ihrer Eltern macht sich die Physikerin Ruth auf in deren Geburtsort, das beschauliche Groß-Einland, um die Beerdigung vorzubereiten. Jedoch stößt sie bald auf ein Problem: Die Gemeinde scheint nirgends auf, scheint offiziell nicht zu existieren. Als Ruth nach einigen Irrfahrten schließlich mit einem kaputten Auto doch in der kleinen Stadt landet, wird schnell klar, dass etwas mit dem Ort nicht stimmt: Unter der Gemeinde befindet sich ein riesiger Hohlraum, dessen genaue Ausmaße unbekannt sind. Es kommt zu Einbrüchen, das Loch droht, nicht nur einzelne Häuser, sondern schlussendlich ganz Groß-Einland in die Tiefe zu reißen. Warum hüllen sich alle in Schweigen, wenn Ruth Fragen stellt? Warum stimmen die Daten von Ruths Untersuchungen nicht mit den offiziellen Dokumenten überein? Was hat die mysteriöse Gräfin, die den ganzen Ort zu besitzen schient, mit alldem zu tun? Und was ist damals – zur Zeit des Nationalsozialismus – tatsächlich in Groß-Einland geschehen?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Klett-Cotta
Seitenzahl: 350
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive (Ruth)
Kapitellänge: mittel bis lang

Tiere im Buch: +/- Es wird geschildert, dass Pferden früher bei Minenarbeiten die Augen ausgestochen wurden und wie ein Hund in einen Spalt fällt und stirbt. Es gibt eine Fuchsjagd mit Hunden (bei der allerdings kein Tier erwischt wird), der Spaß einer Hetzjagd wird betont, ein Pferd hat Angst und wird etwas grober behandelt.  Fleisch wird gegessen und Kalbsleder getragen. Immerhin wird auch eine Katze aus einem Schacht mithilfe von 10 Feuerwehrmännern gerettet.

Warum dieses Buch?

Auf dieses Romandebüt wurde ich durch die Nominierung für den Deutschen und Österreichischen Buchpreis aufmerksam. Da auch der Klappentext wunderbar mysteriös und interessant klang, führte für mich an diesem Buch kein Weg vorbei.

Meine Meinung

Einstieg (2 Sterne)

Puh, der Einstieg war – wie man so schön sagt – eine schwere Geburt! Es hat lange gedauert, bis ich in die Geschichte gefunden und mich mit dem Schreibstil angefreundet hatte. Auf den ersten Seiten, auf denen ich nur sehr langsam vorankam, spielte ich sogar mehrmals mit dem Gedanken, das Buch abzubrechen. Zum Glück habe ich doch nicht aufgegeben, denn das wäre – kleiner Spoiler! – ein Riesenfehler gewesen.

„‘Groß-Einland?‘, fragte die Dame und hämmerte die Buchstabenkette in den Apparat. ‚Nein, in Niederösterreich gibt es keine Gemeinde dieses Namens.‘
‚Das kann nicht sein.‘“ E-Book, Position 134

Schreibstil (4 Sterne)

„Die bereits hereinbrechende Nacht zog die Konturen aus den Latten des Parketts, auf das ich meine Kleidung türmte.“ E-Book, Position 87

Größtenteils lagen meine Einstiegsschwierigkeiten nicht an der Geschichte, die zwar auch nur langsam in Schwung kommt, sondern am anfangs gewöhnungsbedürftigen Schreibstil der Autorin. Raphaela Edelbauer schreibt nämlich sehr anspruchsvoll: Ihre Sätze sind oft lang, gerne verschachtelt und meist sehr reich an Metaphern, die man teilweise mehrmals lesen und überdenken muss, um sie überhaupt zu verstehen. Das empfand ich am Beginn als  sehr anstrengend, manchmal waren mir die vielen Metaphern und die teilweise komplizierte Ausdrucksweise auch später noch zu viel des Guten.

Die gute Nachricht: Ich habe mich mit jeder Seite mehr mit dem Schreibstil angefreundet, bis ich mich am Ende sehr schätze und mochte. Das Buch enthält viele wunderschöne, poetische Stellen, subtilen Humor und hat auch eine gewisse österreichische Note – auch wenn ihm der Charme und Witz von z. B. Angela Lehners „Vater unser“ (große Leseempfehlung an dieser Stelle!) fehlt.

Inhalt, Themen & Ende (5 Sterne ♥)

„‘Das Loch‘, wiederholte er mit vollkommener Selbstverständlichkeit. ‚Es wächst.‘“ E-Book, Position 762

Auch inhaltlich wurde der Roman meiner Meinung nach mit jeder Seite besser – ich habe mich zunehmend in ihn verliebt. Die Nominierung für den Österreichischen und Deutschen Buchpreis ist meiner Meinung nach absolut verdient – auf diese Weise erhält das Buch die Aufmerksamkeit, die es verdient. Raphaela Edelbauer hat mit „Das flüssige Land“ einen erfrischenden, ungewöhnlichen und faszinierenden Roman geschrieben, der beim Lesen die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner LeserInnen einfordert. Vieles wird nur angedeutet, manches steht nur zwischen den Zeilen. Gleichzeitig regt das Buch zum Nachdenken an, unterhält gekonnt, ist spannend wie ein Krimi und lässt viel Raum für (literaturwissenschaftliche) Interpretationen.

Großartig fand ich auch das merkwürdige und gleichzeitig hoch interessante Setting und das teilweise vollkommen absurde Verhalten der BewohnerInnen von Groß-Einland. Teilweise ist der Roman sicher als Milieustudie des österreichischen Landlebens (mit einem Augenzwinkern) zu lesen. Tiefgründig beschäftigt sich die Autorin mit Themen wie Familie, Heimat, der Frage, wie gut wir unsere Eltern wirklich kennen können, und der Kultur des Vergessens, Verdrängens und absichtlichen Vertuschens von Kriegsverbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus, die für Österreich bezeichnend ist und schon oft von österreichischen KünstlerInnen und AutorInnen kritisiert wurde. Auch verschiedene wissenschaftliche (hauptsächlich physikalische) Konzepte werden in den Text eingearbeitet – sie werden gut erklärt und runden die Geschichte ab. Nur ein Punkt lässt mich zwiespältig zurück: die Offenheit des Romans. Einerseits hätte ich mir vor allem am Ende mehr Antworten gewünscht, andererseits schätze ich aber auch gerade, dass sich vieles im Roman in der Schwebe befindet, dass vieles nur vage bleibt und nicht aufgelöst wird. Wer das nicht mag, wird mit dem „Flüssigen Land“ nicht glücklich werden.

Protagonistinnen & Figuren (5 Sterne ♥)

Die Figuren sind meiner Meinung wunderbar gelungen und wirkten auf mich sehr eigenwillig, komplex und authentisch. Sie waren vielleicht nicht alle immer sympathisch, haben mich aber mit ihrer teilweise merkwürdigen Art sehr angezogen und mir gefallen. Ruth fand ich als Protagonistin ebenfalls gelungen. Sie ist eine Frau der Wissenschaft, mit scharfem Verstand, trotzdem gerät auch sie in den Sog der Gemeinde und scheint nach und nach jedes Zeitgefühl zu verlieren. Ich konnte ihre exzessive Suche nach der Wahrheit sehr gut nachvollziehen und habe diese Frau mit ihren glaubwürdigen Stärken und Schwächen (Medikamentenabhängigkeit, Probleme mit der Habilitation) sehr gerne begleitet.

Spannung & Atmosphäre (5 Sterne ♥)

Es hat lange gedauert, aber nach dem zähen Einstieg hat „Das flüssige Land“ auf mich einen starken Sog ausgeübt. Die unheimliche, mysteriöse, teilweise kafkaeske Stimmung und die subtile Spannung, die das Buch durchziehen, haben mich gefesselt und mich die Seiten immer schneller umblättern lassen. Ständig befürchtet man, dass etwas Schreckliches passiert – es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Ruth zu weit geht oder auf Furchtbares stößt. Die dichte Atmosphäre des Buches habe ich echt geliebt!

„Mich beschlich ein Gefühl der Unheimlichkeit am helllichten Tage; die wenigen Figuren, die unterwegs waren, Hausfrauen und Zeitungsboten, warfen tiefe Schatten, die mir nicht mit dem Stand der Sonne zusammenzupassen schienen.“ E-Book, Position 820

Feministischer Blickwinkel (3 Sterne)

Einerseits haben mir einige Dinge sehr gut gefallen: Zum einen besteht das Buch den Bechdel-Test und enthält einige starke, mächtige oder gebildete weibliche Figuren wie die Gräfin und die Protagonistin, die an einer Universität in einem MINT-Fach unterrichtet (sie hat sicherlich Vorbildwirkung!). Zudem gibt es auch keine einzige gegenderte Beleidigung, was ich sehr erfrischend finde! Andererseits werden manchmal auch Genderstereotypen reproduziert, indem nur von Hausfrauen die Rede ist, indem nur Frauen die Wäsche waschen, als Sekretärinnen und Kellnerinnen arbeiten oder während der Trauerzeit Hilfe im Haushalt anbieten. Teilweise ist das natürlich auch dem konservativen Setting der Geschichte geschuldet. Daher bin ich dieses Mal etwas weniger streng. Trotzdem ist hier noch Luft nach oben. Beim nächsten Buch würde ich mir etwas mehr Sensibilität in diesem Bereich wünschen.

Mein Fazit

„Das flüssige Land“ hat mir gezeigt, dass man ein Buch nicht zu schnell abbrechen sollte, weil man sonst sein nächstes Lieblingsbuch verpassen könnte. Die nur langsam in Schwung kommende Geschichte und der ungewöhnliche Schreibstil machten mir den Einstieg schwer. Ab dann habe ich mich jedoch mit jeder Seite mehr in dieses Buch verliebt! Der Schreibstil ist sehr anspruchsvoll: Die Sätze der Autorin sind oft lang und komplex, gerne verschachtelt und meist sehr reich an Metaphern. In manchen Momenten war es mir zu viel des Guten, meist jedoch war ich sehr angetan. Das Buch enthält viele wunderschöne, poetische Stellen, subtilen Humor und hat auch eine gewisse österreichische Note. Auch inhaltlich kann es überzeugen: Raphaela Edelbauer hat einen erfrischenden, ungewöhnlichen und faszinierenden Roman geschrieben, der gleichzeitig zum Nachdenken anregt, gekonnt unterhält, spannend wie ein Krimi ist und viel Raum für Interpretationen lässt. Großartig fand ich auch das seltsame und gleichzeitig faszinierende Setting und das vollkommen absurde Verhalten der BewohnerInnen von Groß-Einland. Tiefgründig beschäftigt sich die Autorin mit Themen wie Familie, Heimat und der Kultur des Vergessens, Verdrängens und absichtlichen Vertuschens von Kriegsverbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus. Nur die Offenheit des Romans lässt mich zwiespältig zurück: Einerseits hätte ich mir vor allem am Ende mehr Antworten gewünscht, andererseits schätze ich aber auch gerade, dass vieles im Roman vage bleibt und nicht aufgelöst wird. Die Figuren sind meiner Meinung wunderbar gelungen und wirkten auf mich sehr eigenwillig, interessant, komplex und authentisch. Ruth fand ich als Protagonistin und Frau der Wissenschaft mit scharfem Verstand, die trotzdem in den Sog der Gemeinde gerät und nach und nach jedes Zeitgefühl zu verlieren scheint, ebenfalls sehr gelungen. Nach dem zähen Einstieg hat „Das flüssige Land“ auf mich einen starken Sog ausgeübt. Die unheimliche, mysteriöse, teilweise kafkaeske Stimmung und die subtile Spannung, die das Buch durchziehen, haben mich gefesselt und mich die Seiten immer schneller umblättern lassen. Meine Empfehlung: Wer einem anspruchsvollen Schreibstil und offenen Enden wenig abgewinnen kann, wird an diesem Roman keinen Gefallen finden. Alle anderen sollten dem Ruf Groß-Einlands aber unbedingt folgen. Lasst euch vom Sog, den diese Geschichte ausübt, mitreißen – aber passt auf, dass ihr dabei nicht vollkommen euer Zeitgefühl verliert!

Bewertung

Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 2 Sterne
Schreibstil: 4 Sterne
Protagonistin: 5 Sterne ♥
Nebenfiguren: 5 Sterne ♥
Spannung: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: 3 Sterne

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥  Lilien

Dieses Buch bekommt von mir fünf Lilien und ein Herz – und damit den Lieblingsbuchstatus!