Rezension

Erinnerungen schenken dem Leben seine Farben

Hüter der Erinnerung - Lois Lowry

Hüter der Erinnerung
von Lois Lowry

Bewertet mit 4 Sternen

Jonas steht kurz vor der 12er Zeremonie. Da wird er endlich erfahren, welchen Beruf er erlernen darf. Die Obersten der Gemeinschaft haben einen für ihn ausgewählt, denn sie kennen ihn am besten. Mit der großen Gleichheit, die weit vor Jonas Geburt eingeführt wurde, kam auch das Leben in einer fest strukturierten Gemeinschaft. Jeder ist Teil eines Ganzen, jeder ist an Regeln gebunden und jeder ist auswechselbar. Es gibt nur eine einzige Person, deren Individualität von Bedeutung ist. Der Hüter der Erinnerung sieht über die Dinge hinaus, ist mit Wissen gesegnet und hat eine große Bürde zu tragen. Doch auch er braucht einen Nachfolger und Jonas wurde dafür auserwählt...

Gesprochen wird das Hörbuch von Monica Bleibtreu. Ich fand ihre Stimme leider nicht sonderlich facettenreich bzw. dynamisch. Die Geschichte wird von einem personalen Erzähler wiedergegeben. Da Jonas jedoch die Hauptfigur ist, hätte mir ein männlicher Erzähler vermutlich besser gefallen, wobei das von dem individuellem Können der Sprecher abhängig ist. Letztendlich fand ich die Umsetzung insgesamt gut, trotz der vorher genannten Kritikpunkte. Es gibt durchaus Sprecher, die es mir unmöglich machen ein Hörbuch zu beenden. In diesem Fall hat mich die Geschichte gefesselt. Allerdings ist mir ein Punkt tatsächlich negativ aufgefallen. Ich weiß nicht, ob das einem Dialekt entspricht, aber Frau Bleibtreu hat vereinzelt Wörter wie Respekt mit "sch"-Laut ausgesprochen. Diese Eigenart passte nicht in den Text und fiel überdeutlich auf.

Charaktere
Jonas lebt zusammen mit seinen "Eltern" und seiner "Schwester". Sie sind nicht seine leibliche Familie, denn in seiner Welt werden Kinder von ausgewählten Frauen auf die Welt gebracht. Nach einem Jahr Betreuung und Begutachtung, ob sie sich den Vorgaben entsprechend entwickeln, bekommmen die Babys einen Namen und eine Familie zugeteilt.
Jonas ist freundlich, zuvorkommend und unterscheidet sich damit nicht von allen anderen in seiner Gemeinschaft. Seine Bestimmung als Hüter der Erinnerung der Gemeinschaft zu dienen, führt ihn in eine Welt voller Erkenntnisse, die sein Leben verändern werden.

Der Geber ist der Mentor von Jonas und gezeichnet von seiner Aufgabe als Hüter. Mit der Zeit erfährt man, was ihn bewegt und beschäftigt. Unabhängig vom Alter, stellt man sich den Geber als alten, weisen Mann vor, der sein volles Vertrauen in Jonas setzt.

Die Geschichte fängt langsam an. Man lernt Jonas kennen und sein Leben in der Gemeinschaft. Bis zu ihrem 12. Lebensjahr nehmen die Kinder an jährlichen Zeremonien statt. Ob die Namensgebung oder die Übergabe ihres ersten Fahrrads - alles verläuft nach festgelegten Plänen. Diese dienen der Gleichheit der Gemeinschaft. Denn ohne Gleichheit ist Platz für individuelle Wünsche, die wiederum zu Unterschieden führen, die weiterhin die Gemeinschaft aus dem Gleichgewicht bringen. Das will niemand riskieren, Gefühle werden durch Tabletten unterdrückt und präzise Aussagen schon in jüngster Kindheit geübt. Missverständnisse sollen vermieden werden, denn auch diese könnten Probleme mit sich bringen.
"Hüter der Erinnerung" beschäftigt sich mit der Frage des Individuums. Wieviele Eigenarten muss man aufgeben, um geduldeter Teil einer Gemeinschaft zu sein? Wieviel Persönlichkeit will man mit einbringen? Sind Unstimmigkeiten eine Chance etwas zu verändern oder bringen sie die Gewissheit mit sich, dass ein Streit
immer zu einem tragischen Ende führt? Kann man auf Individualität verzichten, damit sich jemand anders möglicherweise besser fühlt? Außerdem stellt sich die Frage, ob Wissen auch belastend sein kann.
Auch 20 Jahre nach der Veröffentlichung spricht das Buch noch wichtige Themen an.
Hervorzuheben ist dabei die starke Persönlichkeit von Jonas, die mich zum Ende hin immer mehr beeindruckt hat. Sie trägt die Thematik erstaunlich gut und so abstrakt manche Teile der Geschichte auch scheinen, bringen sie einen doch zum Nachdenken.

Faszinierend an einem Hörbuch ist übrigens, dass das Ende einer Geschichte sehr plötzlich sein kann. Ein Printbuch bereitet einen auf das Ende indirekt vor. In diesem Fall kam der Abschluss des Buches doch eher abrupt. Nun scheiden sich die Geister, wenn es um das Thema "offenes Ende" geht, aber ich denke mir, dass die Autorin sich bewusst dazu entschieden hat.

Fazit
Erinnerungen sind ein Teil von uns. Sie können uns trösten oder wütend zurücklassen, geben uns Geborgenheit und lassen uns hoffen. Lois Lowry schafft mit "Hüter der Erinnerung" ein Bewusstsein für den Wert der Individualität und gegen Uniformität.