Rezension

Erschütternd

Was fehlt, wenn ich verschwunden bin
von Lilly Lindner

Bewertet mit 5 Sternen

„...Weißt du, Phoebe, manchmal sind wir Menschen nicht so, wie wir auf den ersten Augenblick erscheinen. Und manchmal sehen wir nur das, was wir gerade sehen wollen...“

 

Das Buch besteht aus Briefen, liebevollen Briefen, bewegenden Briefen, Briefen, die wütend machen.

Phoebe ist 9 Jahre alt, als ihre 16jährige Schwester April wegen Magersucht in eine Klinik eingeliefert wird. Phoebe schreibt ihr Briefe. Sie drückt darin ihre Trauer und ihre Angst aus. Sie beschreibt die Zustände in der Familie, die Tränen und die Wut der Mutter, das Schweigen des Vaters und seine Flucht in die Arbeit. Sie erzählt von der Schule, dem Alltag und ihren Freunden. Ab und an erinnert sie in ihren Briefen an die Zeit mit der Schwester. All die Briefe durchzieht eine Sehnsucht nach April. Sie bekommt nie eine Antwort, aber sie schreibt weiter. Zwischen den Zeilen steht die Hoffnung. Es gibt freudige Momente und manch Kleinigkeiten, die mich zum Schmunzeln gebracht haben, denn trotz allem erkennt Phoebe auch die positiven Seiten des Lebens. Für ihr Alter kann Phoebe ungewöhnlich mit der Sprache umgehen. Sie hinterfragt den Sinn der Wörter, ordnet sie neu an und gibt ihnen so eine andere Bedeutung. Sie ist immer auf der Suche nach Worten und liebt das Spiel mit den Wörtern. Und sie hat die Gabe, auf Menschen zugehen zu können. So findet sie Halt in der schweren Zeit. Bewegend sind ihre letzten Briefe. Hier dominiert die Trauer, aber auch die Wut auf das Verhalten der Erwachsenen. Als sie diese Wut zeigt, ergibt sich die winzige Chance eines Neuanfangs.

Und dann kommt der zweite Teil des Buches. Jetzt lese ich die Briefe, die April an Phoebe geschrieben hat. Doch sie durfte sie nie abschicken. Spätestens jetzt ist mir jedes Lächeln vergangen. Denn diese Briefe erzählen eine Geschichte, die unter die Haut geht. Es ist die Geschichte eines unverstandenen Kindes, dass mit seiner Intelligenz die Eltern überforderte. Es ist die Geschichte von Einsamkeit und Lieblosigkeit. April war 9 Jahre alt, als sie begann, das Essen zu verweigern. Doch sie hörte nur Vorwürfe, wo sie eine liebevolle Umarmung gebraucht hätte. Der Schmerz im Magen war besser zu ertragen als der Schmerz in der Seele. So begann eine unheilvolle Entwicklung. Und dann gibt es einen einzigen Satz, der noch ein ganz anderes Licht auf die Ursachen wirft, ein Satz über missbrauchtes Vertrauen. In all den Jahren ist Phoebe, die kleine Schwester, ein Lichtblick für April. Die Liebe zwischen den Geschwistern ist in jeder Zeile der Briefe spürbar.

Was ich auch nicht nachvollziehen kann, ist das Verhalten der Klinik. Wie kann man einem Kind, dass zwischen Leben und Tod schwebt, mit Besuchsverbot drohen, um seine Ziele zu erreichen? Was bringt es, wenn die Vorwürfe der Eltern durch die Vorwürfe der Ärzte ersetzt werden?

Wie nahe sich die Mädchen sind, obwohl sie fern voneinander sind, zeigt die Beschreibung des Weihnachtsfestes in beiden Briefen. Das Fest der Freude wird zum Fest der Qual auf beiden Seiten. April hofft, dass Phoebe irgendwann die Briefe lesen wird. Das Buch findet eine Lösung für das Problem. Immer wieder bittet April ihre Schwester, nicht die gleichen Fehler zu machen. Obiges Zitat stammt von April. Es beruhigt und berührt April, als sie erfährt, dass Phoebe Menschen hat, die sie tragen, auch wenn sie sie nicht immer verstehen. Dadurch bekommt Phoebe die Hilfe, die April schmerzhaft vermisst hat.

Das Buch zeigt auch, wie die Krankheit den menschlichen Körper verändert. Diese Zeilen in den Briefen erschüttern mich als Leser. April weiß genau, wie ihre Chancen stehen.

Das Cover mit dem blauen Untergrund und der weißen Schrift wirkt edel. Das großgeschriebene „ICH“ fällt sofort auf.

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Es hat mich tief berührt und erschüttert. Auf einzigartige Weise legt die Autorin dar, dass kein Mensch es verdient hat alleingelassen zu werden, nur weil er nicht in den Rahmen passt, den sich die Gesellschaft gegeben hat.