Rezension

Erschütternd, ehrlich und sehr packend

Sommer unter schwarzen Flügeln - Peer Martin

Sommer unter schwarzen Flügeln
von Peer Martin

Bewertet mit 5 Sternen

Ein herausragendes Buch! Jetzt schon eines der besten Bücher des Jahres! Uneingeschränkte Empfehlung

Dieser Jugendroman ist ein ergreifendes, erschütterndes, wahnsinnig gutes Buch! Obwohl gerade mal das erste Quartal des Jahres um war, als ich es las war zu dem Zeitpunkt bereits klar, dass ich eines der absoluten Jahreshighlights vor mir liegen habe! Und als solches geht das Buch auch weit, sehr weit über ein Jugendbuch hinaus. Es ist im wahrsten Sinne ein Buch, dass jeder lesen sollte. Literarisch gut, inhaltlich packend und trotz der Schwierigkeit der Thematik perfekt umgesetzt, so dass es eine Allgemeingültigkeit und Menschlichkeit hat, wie es selbst guter Literatur nur ab und zu mal gelingt. Ein wertvolles Buch!!!!

Nun zum Inhalt: Nuri, die mit ihrer Familie vor dem syrischen Bürgerkrieg geflohen ist, trifft auf Calvin, der Mitglied einer nationalsozialistischen Bande ist. Nuri kommt aus einer intellektuellen Familie, ihr Vater war in Syrien Lehrer, sie spricht mehrere Sprachen und hat in ihrer Heimat eine gute Schulbildung erhalten. Calvin stammt aus einem sozialen Brennpunkt, sein Vater ist längst auf und davon, den Stiefvater sieht er als Weichei und er kann ihn nicht respektieren, geschweige denn ein männliches Vorbild in ihm sehen, Er hat keinen Schulabschluss und in der vom Amt vermittelten Berufsschule samt Betriebspraktikum nur Probleme. Unterschiedlicher könnten zwei junge Menschen kaum sein. Dass sie sich doch Begegnen, so unwahrscheinlich es ist, ist der Nachhilfe einer engagierten älteren Dame zu verdanken, die sich um Calvins jüngere Brüder kümmert und auch Nuri Deutsch unterrichtet. Als Calvin seine Geschwister dort abholt begegnen sie sich zum ersten Mal und trotz allem Widerwillen und aller Abneigung zwischen dem offensichtlich als rechts gesinnten Jugendlichen zu erkennenden Calvin und der Kopftuch tragenden Nuri ist sofort eine Anziehung da. Eine Anziehung des Andersartigen. So begegnen sie sich einige Male und irgendwann ist da mehr als Ekel, mehr als die Faszination eines Kuriosums, mehr als sich profilieren wollen, mehr als sich als stark und unnachgiebig zeigen wollen...

Calvins Wandel vom Neonazi zum jungen Mann, der zu offenen, vorurteilsfreien Denken und Handeln fähig ist, wird glaubhaft und berührend dargestellt. Auch zeigt er, dass viele der jungen Leute, die sich rechtsradikalem Gedankengut zuwenden, nicht von Grund auf böse sind oder per se zu Gewalt neigen, sondern junge Menschen, die nach einer Identität suchen, die sich Stärke wünschen und doch wissen, dass sie sie in ihrer Umgebung, in ihren Familien nicht finden werden. Und erst recht nicht in einem Job oder der Gesellschaft. Sie fühlen sich von der Gesellschaft ausgestoßen, vergessen, benachteiligt und fallen gelassen und geben die Schuld für ihre Perspektivlosigkeit den „Ausländern“, die den „guten Deutschen“, nämlich ihnen, die Jobs und Möglichkeiten weg nehmen. So unsinnig gedacht das oft erscheint, wird doch klar, wie es zu solchen Denkweisen kommen kann, erst recht in bildungsfernen Schichten, die über nur wenig und sehr einseitige Informationen verfügen, sich richtige, vielschichtige Informationen auch gar nicht holen wollen. Schließlich haben ihre Eltern und Großeltern auch schon so gedacht und das ist oft das einzige, was Familien in dem Viertel, wo Calvin aufwächst überhaupt noch zusammen hält, die einzige wirkliche Gemeinsamkeit.

 

Nuris starke Persönlichkeit nimmt den Leser sofort für sie ein. Sie hat eine regelrechte Strahlkraft und kann damit stark auf die Menschen in ihrer Umgebung einwirken. Obwohl sie so traumatisches in ihrer syrischen Heimat erlebt hat, ist sie doch ein Mensch, der die Schönheit sucht und wie die meisten jungen Menschen süchtig ist nach Leben, Liebe, Glück. Sie ist nicht verbittert und urteilt auch nicht vorschnell über die Menschen, was erklärt, warum sie überhaupt eine Kommunikation mit Calvin aufnimmt.

Trotzdem ich die Verstocktheit, Arroganz, Ignoranz und Kurzsichtigkeit der Bewohner der Hochhäuser, wo Calvin wohnt und wo, entgegen des Willens der Anwohner, Nuris Flüchtlingsheim eröffnet wird, verurteile, so sehr es mich wütend macht, wie dumm manche im 21. Jahrhundert und trotz unserer deutschen Geschichte immer noch sind, so sehr verstehe ich auch, wie sich eine solche Sichtweise entwickeln kann. Vor allem Calvins Familiengeschichte bringt Licht ins Dunkel, wie Menschen ohne Perspektive und in tief empfundener Hoffnungslosigkeit sich in solche engen Sichtweisen flüchten, um sich so wenigstens einen vermeintlichen Platz in der Gesellschaft zu schaffen und ein, wenn auch zweifelhaftes, Selbstbewusstsein als Deutsche zu fühlen. Seine Mutter ist ein Opfer ihrer Herkunft, ohne finanzielle Sicherheit, von der gewaltgeprägten Beziehung zu Calvins Vater kommt sie in die Beziehung zu dem weichen, schwachen Vater ihrer beiden jüngeren Söhne Benji und Tom, der aber auch nichts für die Familie tut und die mit Abstand engste Beziehung zum Fernseher pflegt.

Der zehnjährige Bruder Benji, am Anfang noch ein unbefangener Junge, der bei der Jüdin Frau Silbermann Nachhilfe nimmt und mit seinem Bruder Tom Fußball spielt, kommt aus Mangel an vernünftigen Alternativen immer mehr in Kontakt mit den national gesinnten Jugendlichen und nimmt sich immer mehr ihrer Rhetorik, Platitüden und Verhaltensweisen an, weil er cool sein will. So wird deutlich, wie schon die Kinder indoktriniert werden.

Dieses Buch wühlte so viel in mir auf, hat so viele Emotionen hervor gerufen, Ärger und Wut provoziert, so viel Hilflosikgeit und Trauer in mir hervor gerufen. Das Buch war ungemein spannend und fesselnd, aber es war teilweise wirklich schwer weiter zu lesen. Weil man schon wusste, wie verfahren die Situation ist, weil man ahnte, dass es kein Happy End geben würde, oder zumindest nur eines mit bitterem Beigeschmack. Es war ein wirklich sehr intensives, erschütterndes Leseerlebnis, bei dem ich mir gewünscht hätte, dass vieles nur der Fantasie des Autors entsprungen wäre. Die Realität ist manchmal schwer zu ertragen. Natürlich spitzen sich die Ereignisse im Laufe der Handlung zu und es wird wahnsinnig spannend. Wenn einem nur nicht in jeder Zeile schmerzlich bewusst wäre, dass dies alles, fast genau so, momentan überall in Deutschland geschieht, hätte dieses Buch auch einen verdammt guten Thriller abgegeben.

Mehrfach stellte sich mir die Frage, ob dieses Buch überhaupt noch ein Jugendbuch ist?

Teilweise gibt es sehr krasse Gewaltschilderungen, auch die Folter in den Kellern des syrischen Regimes wird geschildert, Massaker an syrischen Zivilisten, der gnadenlose Umgang der Rechtsradikalen mit ehemaligen Freunden, die nicht mehr ihre Meinung vertreten und an denen deswegen ein Exempel statuiert wird. Es ist schon sehr grausam, vor allem, da der Fokus stets auf der menschlichen Perspektive liegt, statt auf einem nüchternen Erzählton. So wird alles, was geschildert wird, sehr nachempfindbar und ist teilweise schwer auszuhalten. Bei sehr jungen Lesern kann dieses Buch verstörend wirken. Ich würde es keinesfalls unter einem Alter von 14, besser 15 Jahren empfehlen! Aber die Gnadenlosigkeit des Buches ist gleichzeitig seine größte Qualität, seine Ehrlichkeit so unzweifelbar wahr, richtig und wichtig, dass man als Leser doch durch die schweren Szenen geht.

Gerade wegen der aktuellen Situation in Deutschland mit der hohen Flüchtlingszahl, der Überforderung der Politik und den leider immer wieder statt findenden Übergriffen auf Flüchtlings- oder Asylbewerberheime ist es ein Buch, das gelesen sein will!

Es ist ein erschütterndes, bewegendes, ehrliches Buch, dass dennoch nicht in Schwermut absinkt, einen oft in Schock versetzt, aber seinen Lebensmut nie verliert, zumindest nicht ganz. Ein Buch, das trotz all der Verblendung, Idiotie, Grausamkeit, all den Vorurteilen und Ängsten einen Hoffnungsschimmer findet, stark, leuchtend, zart und schön in der Gestalt zweier sehr unterschiedlicher Jugendlicher, die sich ineinander verlieben und dadurch tiefe Wunden etwas heilen lassen. Eigentlich ist es ja, wie bereits erwähnt, ein Jugendbuch, aber es geht weit darüber hinaus! Ich empfehle es wirklich jedem! Für mich schon jetzt eine der mit Abstand wichtigsten Erscheinungen im Jahr 2015, dass viel mehr Aufmerksamkeit bekommen müsste.