Rezension

Erschütternd. Unerträglich intensiv. Aber unglaublich wichtig.

Briefe aus der Hölle - Pavel Markovich Polian

Briefe aus der Hölle
von Pavel Markovich Polian

Bewertet mit 5 Sternen

»Kinderleichen konnten nach Bedarf hinzugefügt werden, nur gestapelt werden mussten sie auf Erwachsenenleichen, damit sie nicht gleich nach unten durchfielen und den Rost verstopften.«

Auschwitz. Jeder weiß, oder sollte wissen, welche beispiellosen Verbrechen dort begangen wurden. Pavel Polian nimmt sich mit diesem Buch einem besonders grausamen Kapitel an, der Arbeit des Sonderkommandos.

 

Das Sonderkommando wurde von der SS aus zur Arbeit selektierten Häftlingen zusammengestellt. Im Mai 1944 bestand das Kommando aus 874 Mann, fast alle (bis auf 25) waren Juden. Ihre Arbeit bestand darin, die Leichen der in den Gaskammern ermordeten Menschen von dort in die Öfen zu schaffen, sie (falls noch nötig) zu entkleiden, Goldzähne zu ziehen, die Haare abzuschneiden und nach erfolgter Verbrennung die Asche zu entsorgen und nicht verbrannte Knochen zu zertrümmern. Da die Mitglieder des Kommandos zwangsläufig in der Lage gewesen wären, die Verbrechen der Nazis zu bezeugen, wurden sie regelmäßig ausgetauscht, sprich ermordet.

Am 7. Oktober 1944 wagte das Sonderkommando einen Aufstand. Dabei konnte ein Ofen zerstört werden und immerhin zwölf Männern gelang es, zu fliehen. Sie wurden zu wichtigen Zeugen.

 

Einige der Mitglieder des Kommandos fanden Wege, Texte über ihre „Arbeit“ zu schreiben, diese Blätter in Flaschen und anderem zu verstecken und diese Behältnisse zu vergraben. In diesem Buch nun finden sich neun Texte, die aus der Erde von Auschwitz geborgen und mit aufwändiger Technik wieder lesbar gemacht und entziffert wurden. Für diese Edition wurden sie außerdem aus dem Jiddischen bzw. Griechischen ins Deutsche übersetzt.

 

Während viele der Texte bereits 1945 geborgen wurden, wurden andere erst später entdeckt. Der letzte im Jahr 1980. Die Texte wurden zuvor schon veröffentlicht, hier sind sie aber erstmals vollständig und auf Deutsch. Ausführlich beschreibt und interpretiert der Autor die Schwierigkeiten bei den Übersetzungen und Veröffentlichungen (Stichworte: Zensur, Akzeptanz, Politik). Eine enorme Herausforderung war und ist es, die in großen Teilen zerstörten Texte lesbar zu machen. Durch die Texte der Chronisten ziehen sich Lücken, an denen es nicht möglich gewesen war, den Text zu rekonstruieren.

Es gibt stetige Bemühungen, mit immer moderneren Methoden diese bislang nicht lesbaren Textteile (und der Anteil ist immer noch sehr hoch) zu entziffern. Insofern hofft der Autor, dass der abgebildete Stand ein „Zwischenwissen“ ist.

 

Den ersten Teil des Buchs bilden grundlegende Infos über Auschwitz, die Opferzahlen und die Befreiung.

Der zweite Teil gehört den fünf Chronisten. Jedem ist ein eigener Abschnitt gewidmet, in dem sich seine Biographie findet und auf speziell sein Schicksal, die Entdeckung der Manuskripte, deren Übersetzung und Veröffentlichung eingegangen wird. Im Anschluss folgen die Texte, vom Autor umfangreich mit Fußnoten versehen und kommentiert.

Im Anhang schließlich gibt es Protokolle der ersten Aussagen einiger überlebender Mitglieder des Sonderkommandos, eine Chronik ausgewählter Ereignisse, noch mal Infos über die Veröffentlichungen der Manuskripte und - ebenfalls sehr beeindruckend - Protokolle der Befreier über das, was sie in Auschwitz vorfanden. Außerdem Übersichtskarten der Lager.

 

So viel zu den sachlichen Inhalten und Hintergründen. Und wie habe ich nun die Lektüre empfunden? Nun, sie brachte mir intensive und teils neue Erkenntnisse. Vor allem aber war sie oft kaum zu ertragen.

Schon der erste Text, „Der Weg zur Hölle“, ist so grausam, so intensiv! Die unglaublichen Mengen an Opfern sprengen mein Vorstellungsvermögen, aber ebenso schlimm empfinde ich die Schilderungen von Einzelschicksalen. Natürlich, der Chronist war mitten unter den Opfern, war eines von ihnen. Seine Texte sind daher ganz nah an den Menschen. Während ich lese, tauchen einzelne Individuen aus der großen Masse auf, bekommen Gesichter. Zu meinem schieren Horror sehe ich plötzlich das Gesicht meiner Mutter oder meines Kindes vor mir…. Ein Alptraum! Ich kann nicht weiterlesen, muss unterbrechen und pausieren.

Texte über das zweckmäßigste Einschichten der Leichen in den Verbrennungsofen, Berichte über (natürlich) zwangsrekrutierte Mitglieder des Sonderkommandos, die ihre eigenen Angehörigen „abfertigen“ mussten… Und immer wieder die unbeschreiblichen Grausamkeiten der Nazis. Wie können Menschen so etwas anderen Menschen antun? Ich kann es nicht nachvollziehen. Und einmal mehr frage ich mich, wie man heute, nach allem, was war und was man weiß, eine rechte oder rechtsgerichtete Partei wählen kann. Egal, wie besorgt man ist, wie abgehängt und vernachlässigt man sich fühlt, wie schlecht es einem geht und wie viel Grund man zum Protest sieht: Es gibt absolut nichts, was das rechtfertigen würde.

 

Fazit: Man kennt alles, man weiß um die Ereignisse, um die Zahlen. Aber diese Berichte, diese tatsächlichen, echten, realen Berichte, sind unerträglich intensiv und lassen keine Distanz mehr zu.

 

»Ich schreibe diese Zeilen im Augenblick größter Gefahr und Erregung. Möge die Zukunft anhand meiner Aufzeichnungen ihr Urteil über uns sprechen und möge die Welt in ihnen einen Tropfen, ein Minimum jener schrecklichen, tragischen Todeswelt erkennen, in der wir lebten.«