Rezension

Erster Weltkrieg in Berlin - Ich war dabei

Als wir unsterblich waren - Charlotte Roth

Als wir unsterblich waren
von Charlotte Roth

Bewertet mit 5 Sternen

Ich habe wirklich seit langem nicht mehr so ein eindrucksvolles Buch gelesen.
Es war erster Weltkrieg in Berlin, und ich habe das Gefühl, ich war dabei.

Wenn man anfängt, dieses Buch zu lesen, denkt man an nichts Böses.
1989, die Ostberlinerin Alex wird im Begeisterungsstrudel wegen der Grenzöffnung zur BRD mitgerissen und stolpert über den Westberliner Oliver. Liebe auf den ersten Blick.
Ganz schlicht, aber eindringlich, erlebt man hier eine sehr schöne Liebesgeschichte in einer Zeit des Umbruchs in Deutschland. Ohne große Erklärungen erfährt man, wie es zu der Wende gekommen ist. Man erlebt sie einfach mit. Wer dabei war denkt: Ja, so war das damals...und wer nicht dabei war denkt: Ach, so hat sich das angefühlt.
Als Alex ihren neuen Liebsten ihrer Großmutter vorstellen will, erleidet sie einen Herzinfarkt. Was hat sie an Olivers Anblick so geschockt?

Das ist allerdings nur die Rahmenhandlung zu Paulas Geschichte, die man von 1912 bis 1933 miterlebt.
Sie beginnt, als Paula 16 Jahre alt war und erzählt vordergründig, wie sie erwachsen wird und sich unsterblich verliebt. Nebenher erfährt man hautnah, wie das Leben in Deutschland zu dieser Zeit war, wie die Bevölkerung im ersten Weltkrieg gelitten hat, wie sich das Parteiensystem durchgesetzt hat und wie die SPD entstanden ist.
Paula war auch bei einer Wende dabei, als nämlich 1918 der deutsche Kaiser abdankte und die Weimarer Republik ausgerufen wurde, kurz nach Ende des ersten Weltkriegs.
All das lernt man ohne große politische Erklärungen kennen. Man erfährt es ganz nebenbei durch das Schicksal von Paula und ihren Freunden, und dadurch ist es sehr nachvollziehbar und sehr beklemmend. Immerhin bahnt sich auch der zweite Weltkrieg an. Auch die einfühlsame und authentische Sprache trägt dazu bei, dass man sich in dieser Zeit sehr zu Hause fühlt.

Irgendwie ist Paulas Geschichte mit der von Alex verbunden. Man liest sie beide mit Spannung und rätselt: Wie passt das zusammen.
Und neben den offensichtlichen Berührungspunkten weisen die beiden Geschichten immer ganz dezente Parallelen auf. Bei einem Zeitwechsel beginnt das neue Kapitel mit dem letzten Satz vom vorherigen und wird eingeleitet mit einem Zitat aus einem Lied, entweder von Berthold Brecht oder Wolf Biermann. Das macht Spaß und ist beeindruckend.

Nach dem Lesen dieses Buches habe ich einen dicken Kloß im Hals und das Gefühl, ich habe ein wichtiges Stück deutsche Geschichte zum ersten Mal richtig verstanden. Ich war dabei und es war schön, aber auch sehr traurig. Man kann plötzlich verstehen, warum Großeltern, die zwei Kriege erlebt haben, nie wirklich etwas darüber erzählen wollten. So etwas kann man eigentlich gar nicht erzählen.
Charlotte Roth hat es an ihrer Stelle erzählt. Dankeschön!