Rezension

Erstklassig gezeichnetes, verstörendes Psychogramm einer Süchtigen

All das zu verlieren - Leïla Slimani

All das zu verlieren
von Leila Slimani

Bewertet mit 5 Sternen

Die Grenzgängerin

Nachdem Leila Slimani uns mit ihrem Gänsehaut-Thriller Dann schlaf auch du das Fürchten lehrte, ist nun ein weiteres ihrer Werke in deutscher Sprache erschienen, das in einem gänzlich anderen Genre angesiedelt ist und die literarische Wandelbarkeit der französisch-marokkanischen Autorin eindrucksvoll unter Beweis stellt. In All das zu verlieren, dessen Protagonistin die französische Zeitung Libération zu Recht als „moderne Madame Bovary“ bezeichnete, entwirft Slimani das Psychogramm einer Frau, die ihrem Lebens- und Selbstüberdruss mit aller Macht entfliehen möchte und dabei in eine selbstzerstörerische Abwärtsspirale gerät, deren Irreversibilität ihr nur selten bewusst wird.

Obwohl die weibliche Hauptfigur in keiner Weise eine Sympathieträgerin ist, geschweige denn eine Identifikationsfigur, gelingt Slimani ein gewagter Drahtseilakt: Auch wenn man als Leser weder Mitgefühl für die destruktive Protagonistin aufbringen noch ihre Ansichten nachvollziehen kann, offenbart der Blick hinter die Fassade eine zutiefst freud- und beziehungsunfähige Frau, deren große Einsamkeit zutiefst berührt. Und es ist genau diese Erkenntnis, die uns auf menschlicher Ebene zu ihr durchdringen lässt – wenn auch nur in kurzen Augenblicken.

Der Inbegriff des Spießertums

Oberflächlich betrachtet fehlt Adèle nichts zu ihrem Glück: Sie lebt mit ihrem Mann Richard, einem angesehenen Arzt, und ihrem kleinen Sohn Lucien in einem exklusiven Pariser Stadtviertel und arbeitet als unabhängige Journalistin für eine Tageszeitung. Doch ihre Unzufriedenheit frisst sie auf: Sie hasst es zu arbeiten – lieber würde sie den ganzen Tag chillen und shoppen. Ihr Leben ist für sie der Inbegriff des Spießertums. Und so hat sie denn auch für die Ambitionen ihres Mannes, der von morgens bis abends arbeitet, um ihr ein angemessenes Leben zu ermöglichen, keinerlei Verständnis. Seine Strebsamkeit findet sie verachtenswert. Auch in dem Haus auf dem Land, das ihr Mann kaufen möchte und das ihr gut gefällt, sieht sie sich in ihrer Zukunft nicht. Doch wo liegt ihre Zukunft?

Süchtig

Adèle fühlt sich vernachlässigt und flüchtet sich in zahlreiche Affären mit den unterschiedlichsten Männern. Dabei ist sie nicht wählerisch und nimmt jeden, der in ihre Reichweite kommt. Doch schon bald werden ihre One-Night-Stands zur Sucht so wie ihr permanenter Wunsch nach Aufmerksamkeit zur Manie wird. Immer öfter, immer schneller, immer brutaler holt sie sich das, was sie braucht. An ihre kleine Familie denkt sie dabei selten. Solange sie im Fokus steht, ist sie glücklich – wenn man dies angesichts ihrer emotionalen Verfassung überhaupt so nennen kann. Doch das trügerische Hochgefühl hält nie lange an. Sobald sie aus dem Bett eines fremden Mannes steigt, ist sie angewidert – von ihrem Lover und von sich. Ihre beginnende Magersucht, die aus ihrem wachsenden Selbstekel resultiert, lässt sich schon bald nicht mehr verheimlichen, doch noch kann sie beruflichen Stress als Ursache dafür angeben.

Getrieben

Als Adèle eine Affäre mit einem guten Bekannten ihres Mannes beginnt, ist sie sich des Risikos voll bewusst. Sie wird immer paranoider und ist ständig von der Angst getrieben, dass Richard hinter ihr Doppelleben kommt. Wie ein gehetztes Tier ist sie permanent auf der Hut – vor sich selbst und den anderen – und will nicht wahrhaben, dass ihr Leben ihr jeden Tag ein Stück mehr entgleitet. Richard kann sich ihr bizarres Verhalten nicht erklären und verliert immer häufiger die Geduld. Auch ihre gute Freundin Lauren beobachtet Adèles zunehmende Rastlosigkeit und ihren körperlichen Verfall mit großer Sorge. Doch Adèle will von alledem nichts hören – bis schließlich die größtmögliche Katastrophe ihr Leben in Scherben legt…

Verstörendes Psychogramm einer Hedonistin

In ihrem Roman All das zu verlieren zeichnet Leila Slimani das verstörende Porträt einer Frau, deren Sucht ihr Leben dominiert. Sehenden Auges geht sie dabei ihrer Selbstzerstörung entgegen, ohne dabei auch nur im geringsten an die Konsequenzen für sich und ihre Familie zu denken. Die permanente Unzufriedenheit, die ständige Frustration und der tagtägliche Missmut der Antiheldin sind eine Herausforderung für den Leser, denn so sehr man sich auch bemüht, die Beweggründe für ihr irritierendes Verhalten zu eruieren, umso weniger erschließt sich ihre widersprüchliche Natur, da sie schlicht nicht greifbar ist. Slimanis Adèle ist nicht nur, wie bereits oben aufgeführt, eine moderne Madame Bovary. Sie hat auch die tragische Ausstrahlung einer Belle de Jour, deren Leben zwischen Tagträumen und unkontrolliertem Ausleben ihrer Bedürfnisse zum Scheitern verurteilt ist.

Doch man kann Slimanis Roman, der brillant geschrieben ist, auch als Allegorie verstehen: Adèle als Symptom, als Grenzgängerin unserer schnelllebigen Zeit, die sich auf der ständigen Suche nach Beachtung im launenhaften Feelgood-Modus selbst verliert. Als Vergnügungssüchtige, die angeödet von ihrer Zweckehe mit einem Mann, den sie allein des Ansehens wegen geheiratet hat, nur im schnellen Rausch existieren kann. Und nicht zuletzt als leichtfertige, oberflächliche Hasardeurin, die alle Limits überschreitet, um Selbstreflexion zu vermeiden.

Es ist kein leicht verdauliches Thema, dem sich Slimani widmet – doch es ist sicherlich eines, das nachdenklich stimmt und aufwühlt. Eines, das die unschönen Auswüchse einer Zeit illuminiert, in der man Alltagsflucht als sinngebend definiert und jeder seine eigene Moral bestimmt. Wohin das führt, lässt sich nicht absehen. Welche Tragödien es hervorbringen kann, zeigt uns die Autorin auf schonungslos reale Weise – jedoch ohne mahnenden Zeigefinger. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist Mahnung genug.

Mein Fazit: Ein erstklassig geschriebener Roman – unbedingt lesenswert!