Rezension

Es genügt nicht allein, die Flucht aus Ostpreußen überlebt zu haben

Herrn Rudolfs Vermächtnis
von Leonie Ossowski

Bewertet mit 4 Sternen

Historischer Hintergrund
Wolfskinder wurden am Ende des Zweiten Weltkriegs Kinder genannt, die sich auf der Flucht aus Ostpreußen allein durchschlagen mussten, nachdem ihre Mütter gestorben oder von ihnen getrennt worden waren. Über die Ereignisse während des Vormarschs der Roten Armee auf dem Weg nach Westen wurde jahrzentelang geschwiegen. Die Überlebenden fühlten sich verpflichtet, erleichtert zu sein, dass sie selbst wenigstens überlebt hatten. Erst nach der Jahrtausenwende gelangte in Deutschland durch eine Reihe von Büchern aus der Feder der Kinder dieser bis dahin vergessenen Generation ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, dass die Überlebenden die schrecklichen Ereignisse, die sie als Kinder auf der Flucht erleben mussten, im Alter nicht mehr länger verdrängen konnten.

Inhalt
Schon ehe das Thema Wolfskinder im Mittelpunkt von Fernsehdokumentationen stand, erzählte Leonie Ossowski bereits vom betagten Herrn Rudolf, der fünfzig Jahre nach der Flucht aus dem Osten durch ein raffiniert formuliertes Testament fünf dieser vergessenen Kinder wieder zusammen an einen Tisch bringen will. Es sind vier Geschwister und deren Cousin Thomas, Rudolfs Adoptivsohn. Während andere sich nicht scheuten, unter elternlosen Kinder gezielt nach einem kräftigen Jungen zu fragen, der im Betrieb mit anpackt, entschied sich Rudolf damals für den sensiblen Thomas, wohl weil er spürte, dass der Junge eine Familie nötiger brauchte als andere Waisen. Als Rudolf in den folgenden Jahren das Unternehmen seines Schwiegervaters aufbaute, wird er im Geheimen doch damit gehadert haben, dass Thomas keine Qualitäten als Nachfolger in der väterlichen Firma entwickelte. Nach Rudolfs Tod lässt sich nun nicht mehr verbergen, dass Thomas die traumatischen Erlebnisse im Winter 1944 nicht ohne therapeutische Hilfe verarbeiten kann. Jeder der vier in Deutschland gebliebenen Geschwister sieht sich als Opfer und hadert unversöhnlich mit der vermeintlichen Schuld der anderen am Tod der Mutter. Wären die anderen nicht dagewesen, wäre die Mutter sicher nicht verhungert. Die Älteren hatten sich bisher darauf versteift, dass Stefan, der als Fünfjähriger von einem Onkel in Kanada adoptiert wurde, es von ihnen allen am besten getroffen hätte. Stefan dagegen, der sich an seine ersten Lebensjahre nicht mehr erinnern kann, fühlt sich um seine Kindheit betrogen. Stefan glaubt eine Weile sogar, er sei ein Findelkind. Dass auch Stefan leidet, gestehen sich die vier anderen nur widerwillig ein. Ute, Lotte und Kurt sind mit ihren fast 60 Jahren noch immer so stark von Ängsten und Zwängen gesteuert, dass selbst der gutwilligste Ehepartner mit ihnen an die Grenzen seiner Geduld gerät. Was damals auf der Flucht genau passierte, können die Geschwister nur gemeinsam aus ihren Erinnerungen wie ein Puzzle zusammenfügen.

Fazit
Leonie Ossowskis Romane sind so lebendig erzählt und bei aller Tragik voller skurriler Anekdoten, als hätte sie ihre Geschichten selbst erlebt oder sie zumindest von den Beteiligten erzählt bekommen. Die Geschichte des Herrn Rudolf soll auf realen Ereignissen beruhen. Der unversöhnliche Tunnelblick von Ossowksi Figuren, allein auf das konzentriert, was ihnen selbst widerfahren ist, verursacht beim Lesen eine Gänsehaut. Gewaltsame Todesfälle und Vergewaltigungen werden in "Herrn Rudolfs Vermächtnis" klar und drastisch geschildert. Die Autorin ordnet jeder ihrer Figuren eine klar abgegrenzte psychische Störung zu. Diese Zuschreibung von Krankheitsbildern behindert m. A. nach eigene Schlüsse der Leser aus dem Verlauf der Handlung. Dass eine Traumatisierung in der Kindheit im späteren Leben die Partnerschaft und das Übernehmen der Elternrolle belasten wird, wäre Ossowskis Lesern auch ohne die Übererklärung deutlich geworden. Leonie Ossowksi bearbeitet als eine von wenigen Autorinnen das Schicksal der Wolfskinder im Roman. Das ist ihr - mit der genannten Einschränkung - eindrucksvoll gelungen.