Rezension

Es kann schwieriger sein, Eltern eines Behinderten zu sein als der Behinderte selbst

Weit vom Stamm - Andrew Solomon

Weit vom Stamm
von Andrew Solomon

Bewertet mit 4 Sternen

Auslöser für Andrew Solomon, sein Buch über zwölf Behinderungen oder Abweichungen von der Norm zu verfassen, war ein Auftrag, für das New York Times Magazine über Gehörlosigkeit zu schreiben. Andrew Solomon recherchierte für sein Buch u. a. aus der Erkenntnis heraus, dass moderne Gesellschaften sich vor Andersartigkeit fürchten. Noch immer flüchten sich Außenstehende in Schuldzuschreibung gegenüber den betroffenen Eltern, selbst wenn eine Abweichung genetisch bedingt ist oder schicksalhaft durch eine Krankheit verursacht wurde. Solomon hat eine Fülle von Äußerungen Betroffener zusammengetragen (die er auf über 60 Seiten Anmerkungen dokumentiert) und eine gewaltige Menge von Sachinformationen; allein die Bibliographie umfasst 100 Seiten. In zwölf Kapiteln stellt der Autor die Schicksale gehörloser oder kleinwüchsiger Kinder vor, er besuchte und interviewte Familien, deren Kinder vom Down Syndrom, Autismus, Schizophrenie, schwerster Mehrfachbehinderung, Hochintelligenz, Transsexualität, Kriminalität betroffen sind oder deren Kind nach einer Vergewaltigung zur Welt kam. "Es ist schwieriger, die Eltern eines Behinderten zu sein als der Behinderte selbst," stellt der Autor bei seiner Recherche fest. Die Eltern begabter junger Musiker verdeutlichen schließlich, welche Gemeinsamkeit alle Schicksale verbindet - es ist der Zwang, das gesamte Familienleben nach den Bedürfnissen eines oder mehrerer besonderer Kinder auszurichten. Im Fall Schwerstbehinderter kann dieser Zwang dazu führen, dass die überlasteten Eltern aus Überforderung ihr Kind und sich töten.

Solomon hat selbst vielfältige Erfahrungen mit dem Anderssein als Sohn einer Mutter, die lernte, ihren jüdischen Glauben zu verbergen, als Homosexueller, als Vater eines durch Eizellspende gezeugten und von einer Leihmutter ausgetragenen Sohnes und als Legastheniker, dessen Leseprobleme von seiner Mutter tatkräftig therapiert wurden, während sie ihm den Wunsch nach einem pinken Luftballon abschlug. Solomon erfährt sich schon früh als Angehöriger einer Subkultur.

Anhand der Situation Gehörloser erläutert der amerikanische Psychiater die Situation von Eltern, die schon sehr früh für ihr behindertes Kind weitreichende Entscheidungen treffen müssen, die die Gesundheit und den weiteren Lebenslauf entscheidend beeinflussen werden. Im Falle gehörloser Kinder war das lange eine Entscheidung gegen die Gebärdensprache und für eine - für das Kind anstrengende und meist erfolglose - Sprachtherapie. Inzwischen ist es die Entscheidung für oder gegen ein Cochlea-Implantat. Am Beispiel der Gehörlosen wird hier die Selbstwahrnehmung Behinderter als Subkultur oder eigene Ethnie deutlich. Die Gruppe kann sich in ihrer Identität geschwächt fühlen, wenn weniger Menschen mit dieser Behinderung zur Welt kommen (durch Eindämmung der dafür ursächlichen Krankheit) oder durch die Möglichkeit per pränataler Diagnostik oder Präimplantationsdiagnostik genetisch bedingte Behinderungen auszuschließen. Gehörlose Eltern haben diese Möglichkeiten bereits genutzt, um gezielt ein nicht hörendes Kind zu bekommen, das so ist wie sie selbst.

Übersetzungen von Büchern amerikanischer Autoren über die Lebenswelt Behinderter müssen mit Abstrichen gelesen und beurteilt werden. Das US-Bildungs- und Gesundheitssystem unterscheidet sich erheblich von dem anderer Länder, so dass viele der geschilderten Erfahrungen nicht übertragbar sind. Solomons zwölf Kapitel vom Anderssein fallen deshalb für deutsche Leser höchst unterschiedlich interessant aus. Von grundlegenden behindertenpolitischen Überlegungen zum Thema Inklusion, über historische Gegebenheiten der 60er und 70er Jahre, der Begegnung mit den Eltern eines der Colombine-Amokläufer, Anekdoten von musikalischen Wunderkindern bis zu seinen faktenreichen Kapiteln über Schizophrenie und schwere Formen des Autismus. Zwölf Kapitel, beim Lesen herausfordernd wie zwölf einzelne Bücher.