Rezension

Es wird kein Klischee ausgelassen

Tattoos & Tequila - Vince Neil, Mike Sager

Tattoos & Tequila
von Vince Neil Mike Sager

Bewertet mit 4 Sternen

Vince Neil (geboren als Vince Neil Wharton) hat nun auch seine eigene Biographie auf dem Markt, nachdem die Mötley Crüe (= zusammengewürfelte Crew, ein passender Bandname, wie das Buch beweist) Geschäftspartner/Arbeitskollegen/Freunde Nikki Sixx (Tagebuch eines Heroinsüchtigen: 365 höllische Tage im Leben eines Rockstars) und Tommy Lee (Tommyland) bereits ihre Sicht der Dinge veröffentlicht hatten. Das eindeutige Referenzwerk zur Hairspray-Glam-Metal Band Mötley Crüe bleibt ganz offensichtlich weiterhin "The Dirt" von Neil Strauss

Zahlreiche Stellen in "Tattoos & Tequila" Tattoos and Tequila (die gleichnamige CD ist kein Hörbuch, sondern ein neues Soloalbum des Crüe-Sängers) beziehen sich auf das Buch von Neil Strauss.

Geschrieben wurde die Neil Biographie von Mike Sager. Einen Grund für die Hilfe bei seiner Autobiographie nennt der Rockstar ganz freimütig: Vince gibt zu, daß er an Legasthenie leidet. Sager schreibt aber nicht nur auf, was ihm der Sänger in sehr einfacher, ungefilterter Sprache mitteilt, sondern stellt dem was der blonde Metal-Frontmann erzählt, auch die Meinungen der Menschen gegenüber, die Sager für das Buch interviewt hat. Nikki Sixx ist das einzige Mitglied der Crüe, das für ein Interview für dieses Buch zur Verfügung stand. Mit ihm und dem Rest der Band ist Neil in Hass-Liebe verbunden und hält mit seiner Kritik nicht hinterm Berg, aber er verschweigt auch nicht die vielen positiven Erinnerungen an die Frühzeit der Band, besonders mit Tommy Lee. Besonders ergiebig sind die Interviews mit den vier Ehefrauen des Sängers, die meist das genaue Gegenteil von dem erzählen, was zuvor Neil berichtet hat. Auch die Geschäftspartner widersprechen immer mal wieder dem Bild, das Entertainer Vince Neil gerne von sich zeichnet.

Das Bild das mir nach den, sehr unterhaltsamen und flüssig zu lesenden 368 Seiten bleibt, ist das eines Mannes, der mit 17 Jahren Vater wurde, die Schule abbrach, als Elektriker und Bauarbeiter jobbte und es zu einem Rockstar der 80er Jahre brachte. Vieles fiel ihm zu, aufgrund seines Aussehens und seines Charmes. Seine Abhängigkeiten (Alkohol, Drogen und Sex) will er sich nicht eingestehen, obwohl er für einen schweren Unfall mit Todesfolge eines Freundes, bei dem er stark angetrunken war, ins Gefängnis kam. Auf der Bühne ein Star, im Alltag und nüchtern reichlich schüchtern, wenn er aber betrunken ist, gewalttätig und völlig daneben.

Obwohl Mötley Crüe eigentlich Musiker sind, geht es in diesem Buch fast nie um Musik. Ausnahmen bilden interessante Details zu den wachsenden Kosten und den immer zeitintensiveren, gleichzeitig auch immer schwächer werdenden Alben der Band. Zwar fordert Neil mehr Respekt für das Werk der Gruppe, tatsächlich geht es in seinen Erzählungen aber fast ausschließlich um die Parties während der Tour und die besonders schrillen Momente, wie Autorennen und Urlaube mit Porno-Stars. Vom Alltag als Berufsmusiker gibt's fast nichts zu erfahren. Wäre wohl schlecht fürs Image. Mötley Crüe sind weder so wichtig wie Metallica noch so authentisch wie Nirvana, das bestätigt dieses Buch sehr deutlich. Bei Vince Neil, Mick Marrs, Nikki Sixx und Tommy Lee geht's um Spaß und deshalb heißt einer ihrer bekanntesten Songs "Girls, Girls, Girls" Girls, Girls, Girls.

Das vom vielen Geld und dem Ruhm inzwischen deutlich weniger geblieben ist, macht Vince Neil zu schaffen. Mit 50 wird er inzwischen nicht mehr so oft erkannt wie früher, seine Kinder konnten in der Schule gar nicht mit ihrem Rockstar-Vater angeben, weil die Kids nur Britney und N'sync kannten. Das sind Momente in denen der Mensch Vince durchkommt und sehr sympathisch wirkt. Eine seiner Ehefrauen verrät, dass sich Vince Neil, wenn er lügt die Augenbrauen an den Rändern ausreißt und sie inzwischen nicht mehr nachwachsen. Wie sehr haben seine Brauen für dieses Buch gelitten? Keine Sorge: allzu tiefgründig wird es nicht, von einer schon masochistischen Offenheit, wie in Metallicas Therapiefilm "Some kind of monster", bleibt der Leser hier verschont.

Viele kleine Anekdoten sind es, die mir besonders viel Spaß gemacht haben, beim Lesen dieser Rockstar-Memoiren. Das hier alle Klischees bedient werden - Schwamm drüber. Geradezu revolutionär ist ein Musiker wie Gene Simmons, der sich dazu bekennt, zumindest in den letzten Jahren, monogam zu sein, weder Alkohol noch Drogen anzurühren und sich noch dazu weiterzubilden. So was wäre bei Mötley Crüe wahrscheinlich Rufmord.
In Neils Erzählungen von der KISS-Tour kommen Simmons und seine Jungs nicht sehr gut weg, ebenso wenig wie die seriösen Party-Verächter von Iron Maiden (zumindest schildert Neil das so, weil außer Drummer McBrain niemand aus der Band mit ihm an der Bar saß) oder Axl Rose, den er erfolglos zum Duell aufforderte. Auch schön: die gut 40 verschiedenen Luxusautos, der Super-Orgasmus in Tommy Lees Auto, der Burrito-Trick und völlige Überforderung beim Koordinieren all der Groupies und Ehefrauen. Auch Vince Neils tiefschürfendes Philosophieren über die Unterschiede von Playmates, Stripperinnen und Porno-Stars haben ihren Reiz. Für Musik-Begeisterte sicher auch nicht uninteressant: die Infos zur Aufnahme des Crüe Debüts und die völlig veränderte Situation im Musikgeschäft heute: das Geld wird nicht mehr mit Singles und Alben verdient (weil sie illegal verbreitet werden), sondern mit Konzerten, der eigenen Tequila-Marke, Merchandising und Büchern - neben der verletzten Eitelkeit sicher auch das ein Grund, warum sich Vince Neil für dieses Buch entschied. Er wird alt und braucht das Geld. Scheidungen, Prozesse und ein verschwenderischer Lebensstil führten zur Insolvenz, also musste zwangsläufig wieder die alte Band reaktiviert werden, um Kohle zu machen. Millionen mit Plattenverkäufen verdient, aber zeitweise 120.000 Dollar pro Woche ausgegeben. Das ging an die Substanz, nicht nur finanziell. Songwriter und Bandgründer Nikki Sixx war bereits klinisch tot und Vince Neil checkte in viele bekannten Entzugskliniken in den USA ein.

Zum Schluss noch ein Zitat, ein Fazit seiner Karriere, von Vince Neil: "Wir sind in die Geschichte eingegangen. Mötley Crüe haben in den Achtzigern etwas losgetreten, was heute noch Bestand hat. Man könnte es Hairspray-Metal nennen. [...] Aber es ging ja nicht nur um die Haare.".
Hätte es mit dem Durchbruch als Rockstar nicht geklappt, dann wäre er gerne bei dem geblieben, was ihm in seiner frühen Jugend besonders viel Spaß gemacht hat: Skaten und Surfen und wenn es denn schon ein Beruf sein muss, dann am liebsten Jet-Skis auf den Bahamas vermieten, so beschreibt es der Mötley Crüe Frontmann selbst. Vince Neil gefiel es sehr in Kalifornien: Sonne, Meer, Strand und Blondinen. So richtig nach Heavy Metal klingt das nicht. Nach sehr viel Spaß allerdings schon und viel Spaß macht es auch dieses Buch zu lesen!