Rezension

Eure Augen morden!

Reality-Show - Amélie Nothomb

Reality-Show
von Amélie Nothomb

Bewertet mit 5 Sternen

»Dann kam der Tag, an dem das Leid der anderen ihnen nicht mehr genügte; sie wollten die Show.«

Ein Fernsehsender setzt neue Maßstäbe und bringt eine Reality-Show auf den Markt, bei der willkürlich von der Straße geraubte Menschen in ein Konzentrationslager gesperrt werden. Ihre Aufseher, die Kapos, wurden gecastet und zeichnen sich durch Jugend, Stärke und Brutalität aus. Immer dabei sind die Kameras, die rund um die Uhr aufzeichnen, und mit ihnen natürlich die Zuschauer vor den Fernsehapparaten. Doch damit nicht genug, denn um keine Langeweile beim Wohnzimmerpublikum aufkommen zu lassen, darf es via Fernbedienung mitbestimmen, wer von den Insassen selektiert werden soll.

»Genial! Das ist wie bei den Gladiatorkämpfen in Rom, Daumen hoch oder runter.«

Und so kam es, dass der Überlebenskampf zahlloser Menschen – ihre brutale Realität – zur Unterhaltungsshow für andere wurde. Und wie bei einem schrecklichen Unfall schaut niemand weg.

Amélie Nothomb greift ein hochbrisantes Thema auf, rückt den schnöden Voyeurismus, die Unterhaltungsindustrie sowie die Macht der Medienkultur ins Rampenlicht und lässt sie in diesem grellen Schein überaus hässlich aber auch schockierend brutal aussehen. Bewusst oder unbewusst bleibt sie die äußeren Umstände betreffend vage und so wissen wir weder, um welchen Staat es sich handelt, noch in welcher Zeit wir uns befinden oder welche Politik herrscht. Es geht auch nicht darum, wie so etwas überhaupt zugelassen werden kann oder warum niemand einschreitet. Vielmehr spielt Einfluss eine Rolle, Nothomb zeigt auf, wer wieviel davon hat, wenn er Regeln befolgt oder aber sich bewusst dagegen entscheidet. Psychologie und Macht sind hier Schlüsselbegriffe.

Eine junge Frau, auch sie des Namens und damit jeglicher Persönlichkeit beraubt, fällt durch ihren zunächst stillen Protest und ihre Unbeugsamkeit auf und wird so schnell zum Medien- und Publikumsliebling. CKZ 114, ehemals Pannonica, avanciert für ihre Leidensgenossen zum Symbol des Widerstands. Doch Wankelmut ist des Menschen liebste Eigenschaft und so erleben wir ihn auch bei den Gefangenen. Die ungebildete, grobschlächtige und bis dato nicht beachtete Kapo Zdena ist zunächst abgestoßen, doch im Verlauf der Geschichte zunehmend fasziniert von CKZ 114. Zwischen den beiden Frauen entspinnt sich allsbald ein beunruhigendes, psychologisches Machtspiel.

Die Stärke des Romans liegt nicht in der Logik oder Realitätsnähe, sondern vielmehr bei den zahlreichen Denkanstößen, die Nothomb dem Leser an die Hand gibt. Man kommt nicht umhin das eigene Verhalten und Denken zu hinterfragen. Die Schlüsse, die sowohl die Protagonisten im Buch, als auch der Leser selbst ziehen kann und sollte, machen »Reality-Show« so interessant und lesenswert. Prägnante Dialoge kennzeichnen den Roman, lassen ihn zu einem Pageturner werden und geben immer wieder neue Denkimpulse.

Fazit

Ein zwar überspitztes aber auch beängstigend gutes Buch, das mich gedanklich während und auch noch lange nach der Lektüre intensiv beschäftigt hat.
Was wir sagen kann fehl- oder vielgedeutet, ja sogar missbraucht, werden – entscheidend ist, was wir tun.