Rezension

Existenzieller Moment.

Rot vor Augen - Lina Meruane

Rot vor Augen
von Lina Meruane

Bewertet mit 3.5 Sternen

Nicht immer halten die Empfehlungen des Literaturbetriebs, was sie versprechen.

Lina hat eine seltene, im Buch unbenannte Augenkrankheit. Sie droht zu erblinden, denn Adern, die in ihre Netzhaut wuchern, sind geplatzt und überschwemmen ihre Augen mit Blut. Eine Operation bei einer amerikanischen Koryphäe ist die letzte Hoffnung. Aber man kann nicht operieren, solange der Körper das Blut im Auge nicht absorbiert hat. Einen qualvollen Monat lang muss Lina warten, bis sie weiß, ob es eine Operation und damit eine Chance geben wird, ihre Sehkraft zu erhalten. Der Arzt rät ihr, für die Wartezeit zu ihrer Familie nach Chile zu gehen. Dort ist der Luftdruck günstig für ihre Augen.

Der Roman beginnt mit dem Moment, als die Adern im Auge platzen. „Da geschah es. In dem Moment“ und endet mit dem Resultat nach der Operation. Das Ganze ist eine Art verlängerte Momentaufnahme eines existenziellen Moments und kann als Erklärung dienen für die gewählte Sprache.

„Rot vor Augen“ ist in gewollt intellektueller Sprache verfasst, die überaus kühl wirkt und den Leser auf Distanz hält. Dennoch vermag die Szenerie kurz vor der Operation zu fesseln und zu bedrücken, als die Autorin darstellt, wie ausgeliefert Lina ist und auch wie gedemütigt durch die medizinischen Untersuchungen und verwaltungstechnischen Regelungen, die kaum Rücksicht auf menschliche Gefühle nimmt. Ein Opfer auf dem Opfertisch, schreibt Meruane sinngemäss. Entmenschlicht.

Ohne Zweifel kreiert die Autorin moderne Sprache, die geschöpften Bilder sind anschaulich, oft überraschend, innovativ sogar, „sie brachten Gesichter voll Eile mit“, „auf einer Fernstraße, die sich als Autobahn gebärdete“, „meine Augen leerten sich allmählich von allem Gesehenen.“ Dazu kommen viele Sätze, die nur aufzählen. Dies unterstreicht den Eindruck einer Momentaufnahme. Klick! Aber auch dieser Kunstgriff hält den Leser auf Abstand. Gefühle werden durch Kunst gefiltert und verdünnt. Viel zu sehr verdünnt!

Die Beziehung zu den nächsten Angehörigen, Ignacio, Linas Feund und ihrer Mutter werden ebenfalls in diesen Stil einbezogen: „Sie warf sich mir an den Hals, meine Mutter. Eine Meduse, eine Qualle, ein Geißeltierchen, ein Organismus mit gallertartigem Körper und Tentakeln, die Nesselfieber auslösten.“

„Buchzeit“ auf 3sat hat diesen Roman gelobt. Es mag das Kunstfertige sein, was beeindruckt hat. Mir gefällt dieser Roman nicht. Zu gewollt intellektuell. Zu verdünnt.

Fazit: „Rot vor Augen“ behandelt eine menschliche Tragödie in Kunstform gegossen. Es ist ein Roman, der mich durch seine intellektuelle Überhöhung der Sprache ziemlich kalt läßt !

Drei Sterne gibt es fürs Handwerk und für die Herzszene in der Klinik.

Kategorie: moderne Literatur
Verlag: Arche, 2018