Rezension

Facettenreich, bedrückend, nachdenklich stimmend

Unter der Drachenwand
von Arno Geiger

Bewertet mit 4 Sternen

Was vom Volk noch übrig bleibt ...

„Ein heimatloser Flüchtling, ein heimat-und staatenloser Mensch, unter falschem Namen, mit falschen Papieren, mit falschem Blut, in der falschen Zeit, im falschen Leben, in der falschen Welt.“

 

Inhalt

 

Für Veit Kolbe, der mutig im Krieg gekämpft hat, haben sich alle Illusionen verflüchtigt. Für ihn bedeutet seine Kriegsverletzung vor allem eines: dem Schrecken entkommen, wenigstens für ein paar Monate nicht mehr an der Front zu kämpfen, sondern sich im Hinterland erholen. In der kleinen Gemeinde Mondsee gelegen im Salzburger Land, direkt unter der majestätischen Gebirgskette der Drachenwand findet er eine bescheidene Unterkunft und versucht sich nun angestrengt mental über Wasser zu halten. Seine Kriegserlebnisse holen ihn immer wieder ein, er leidet unter einer posttraumatischen Störung und ist bald schon auf Medikamente angewiesen, die seine Angstzustände mindern. Und auch, wenn die feindlichen Bomber anderswo sind, merkt er, wie die restliche zivile Bevölkerung auch: Der Krieg hat alles vernichtet, ganze Städte, tausende Menschenleben und selbst die Aussicht auf einen Neubeginn – am Boden zerstört sind die Überlebenden und gewonnen hat nur die lange Hand der Zerstörung. Für Veit wird jeder Tag in Mondsee wertvoll, denn er findet dort eine echte Liebe, ein Quäntchen Glück im Zerfall eines ganzen Landes, doch das Damoklesschwert schwebt bedrohlich über ihm. Wie lange noch, kann er sich mit gefälschten Unterlagen vor der Vaterlandspflicht freikaufen? Wann holt ihn sein ärgster Feind wieder ein?

 

Meinung

 

Arno Geiger, der österreichische Autor, der bereits mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, fängt in dieser Erzählung ganz vortrefflich die Aussichtslosigkeit und das Unverständnis der Menschen ein, die in den Krieg geraten sind, ohne ihn jemals wirklich forciert zu haben. Das ganze Ausmaß ihrer Verzweiflung wird nun, im Winter 1944/ 1945 besonders deutlich, denn ein Sieg ist nicht mehr zu erwarten und der Schrecken des Krieges, seine allumfassende Vernichtungswirkung trifft jeden zivilen Bürger, trifft Alte, Junge, Frauen und Kinder, Städte und Menschen – die Welt liegt in Schutt und Asche und doch scheint es Hoffnung zu geben. Irgendwo zwischen Entmutigung, Verzweiflung, Sorgen und Überlebenskampf, glimmt die kleine Flamme des möglichen Neuanfangs.

 

Das Buch besticht durch mehrere Erzählungen und auch diverse Erzählstimmen, die leider nicht immer klar voneinander abgegrenzt sind. Dadurch entsteht ein sehr umfassendes, allumgreifendes Portrait dieser Zeit, welches nicht durch ein einziges, trauriges Schicksal wirkt, sondern eher durch das Ineinandergreifen mehrerer schwerer Ereignisse. Der Leser begegnet Menschen, die fliehen, um ihrer persönlichen Verfolgung zu entgehen, anderen die trotzig versuchen ihren Charakter zu bewahren, auch wenn Rückgrat in der Meinungsbildung gesellschaftlich nicht anerkannt wird. Es gibt die Ausgebombten, deren größter Wunsch ein Bett, etwas zu Essen und Wärme ist und es gibt die Resoluten, die selbst in der ausweglosesten Situation einen kühlen Kopf bewahren und besonnen ihren Weg durch Trümmer und Tränen beschreiten. Diese Vielfalt an Eindrücken macht im Wesentlichen auch den Reiz des Buches aus, weil dadurch das Gefühl einer intensiven, lebensnahen Geschichte entsteht, die das Ausmaß der kriegerischen Handlungen kurz vor Ende des 2. Weltkrieges authentisch und bedrückend zugleich einfängt.

 

Manchmal jedoch tritt die Handlung etwas auf der Stelle, wirkt die Erzählung sehr träge und ausgelaugt auf mich, so wie eben auch die Menschen, die sie schildern. Der Mangel an glücklichen Momenten, die vielen kleinen aber auch größeren Rückschläge der Protagonisten stimmen mich selbst sehr traurig und führen die Entbehrung jeglicher Notwendigkeit dieser kriegerischen Handlung erst Recht vor Augen. Mir fehlte auch etwas der Blick nach vorn, zunächst der nach vorn an die Front, dann aber auch der zwischenmenschliche Faktor. Denn die Interaktion zwischen den Personen verläuft ein bisschen wie zwischen Seifenblasen – man hält Distanz zueinander, lässt sich treiben und gerät in Gefahr zu zerplatzen, wenn man einander zu nahekommt. Letztlich wirkt das Leben des Einzelnen ebenso kostbar wie zerstörerisch und manchmal sind es nur Momente oder minimale Abweichungen, die den Verlauf der Zukunft willkürlich ändern können.

 

Fazit

 

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen ernsten, ruhigen Roman über die Schrecken und Wirkungen des Krieges im Hinterland. Er setzt sich mit zahlreichen Emotionen auseinander und veranschaulicht, warum die Menschen verzweifeln, was sie noch antreibt, wenn es scheinbar keinen Motivator mehr gibt und welche Gefühle dennoch auf der Strecke bleiben, gerade weil der Krieg nicht nur Häuser zerstört, sondern auch die Seelen der Menschen. Facettenreich und ansprechend erzählt der Autor eine Geschichte des Schreckens, in deren Materie man hier als Leser eintauchen kann, man muss aber auch bemüht sein, wieder aus dem Sumpf herauszufinden.