Rezension

Facettenreich, spannend und intelligent

Die Schatten von Race Point - Patry Francis

Die Schatten von Race Point
von Patry Francis

Bewertet mit 5 Sternen

Einige Worte zum Inhalt

Hallie Costa und Gus Silva sind in ihrer Kindheit unzertrennlich. Als sie älter werden, wird aus Freundschaft Liebe. Der Schulabschlus rückt näher und Hallie, Gus und ihre Freunde schmieden große Pläne für die Zukunft. Doch am Tage des Abschlussballs geschieht am Strand von Race Point ein tragischer Vorfall, der das Leben aller Beteiligten unwiderruflich verändert und Hallie und Gus auseinandertreibt.

Meine Meinung

Zuerst dachte ich: Uff, ein ganz schöner Schinken! Denn Die Schatten von Race Point ist kein kleines Büchlein, das man ruckzuck durchgelesen hat. Für diesen Schmöker mit seinen fast sechshundert Seiten muss man sich Zeit nehmen, doch das tut man gern, wenn man sich erst einmal in die Charaktere verliebt hat. Ich wusste nach Beenden des Buches lange nicht, wie ich meine Gefühle einordnen sollte, und kann nun mit etwas Abstand berichten: Dieses Buch muss man gelesen haben!

Die Dicke des Buches ist dadurch bedingt, dass die Autorin sich nicht nur mit einem kleinen Zeitausschnitt, sondern mit ganzen drei Jahrzehnten beschäftigt, in denen wir Hallie und Gus begleiten dürfen. Wir erleben sie als Kinder und schließlich als Erwachsene und es war ein unglaubliches Gefühl, das Buch am Ende zuzuklappen. Als wäre ich ein Teil dieser Geschichte geworden. Und vielleicht bin ich das auch.

Es macht unglaublich viel Spaß, Hallie und Gus durch ihre Kindheit und Jugend zu begleiten. Vor allem Gus ist mit seiner Familie mehr gestraft als gesegnet – Codfish, wie sein Vater im Ort genannt wird, ist ein Trinker, der seinem Sohn und seiner Frau gegenüber häufig gewalttägig wird. Als Gus’ Mutter schließlich nach einem der gefürchteten Gewaltausbrüche stirbt, ist nichts mehr wie zuvor. Dies ist der Beginn von Hallies und Gus’ gemeinsamer Geschichte: Alles beginnt mit zwei Elritzen und einer Ausgabe von David Copperfield. Patry Francis berschreibt rührend, wie die Kinder sich annähern und aus einem zarten Band eine tiefe Freundschaft wird. Als die beiden älter werden, entfernen sie sich etwas voneinander, finden jedoch nach einer weiteren berührenden Annäherungsphase als Liebespaar wieder zusammen.

“Es war der kürzeste, zarteste Kuss, den man sich vorstellen konnte, doch er stach sie, infizierte sie, veränderte für immer die Farben der Landschaft, in der sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte.” – S. 113

Was den tragischen Vorfall angeht, möchte ich hier natürlich nicht zu viel verraten. So viel sei gesagt: Er treibt Hallie, Gus und ihren gemeinsamen Freund Neil auseinander. Doch auch Jahre später, als Hallie den Ort, an dem sie aufgewachsen ist, längst verlassen hat, sind ihre Gedanken noch immer bei Gus. Als dieser des Mordes angeklagt wird, beschließt Hallie, sich ihrer Vergangenheit zu stellen und kehrt nach Race Point zurück, wo sich dunkle Geheimnisse und ungeahnter Verrat tummeln …

Die Charaktere sind wirklich einzigartig und hervorragend ausgearbeitet. Jedes Detail macht sie noch raffinierter und liebenswürdiger. Vor allem Hallie hat es mir angetan, denn ich konnte mich von Anfang an mit ihr identifizieren. Sie ist eine einfühlsame und intelligente Frau, die mit ihren ganz eigenen Dämonen kämpft und doch nie aufgibt. Auch Gus ist ein Unikat. Der schwer traumatisierte Junge entwickelt sich zu einem vielschichtigen Erwachsenen, dessen Gedanken und Handlungen ich jederzeit nachvollziehen konnte. Die anderen Charaktere, beispielsweise Hallies Vater Nick und ihr schräger Mitbewohner Wolf, sind ebenso wie die Protagonisten voller Persönlichkeit. Patry Francis hat ihre Charaktere wirklich meisterhaft konstruiert!

“Letztes Jahr, als ich eine schräge Kafka-Phase hatte, habe ich meinen Dad in Käfer umgetauft, wie in der Verwandlung, und unser Haus war von da an nur noch das Schloss.” – S. 407

Langweilig wird die Geschichte trotz ihrer Länge nie, denn die Kombination aus zwischenmenschlichen Beziehungen und Krimielementen bietet viele spannende Momente. Immer wieder muss man die Geschichte als Leser in eine neue Perspektive rücken, eine unerwartete Wendung folgt auf die nächste. Wir haben es hier mit einem Buch zu tun, das tatsächlich nicht vorhersehbar ist, was mich sehr beeindruckt hat. Normalerweise entwickle ich im Laufe der Geschichte eine ungefähre Ahnung, wo das Ganze enden wird, doch Patry Francis hat all meine Überlegungen zerschmettert. Dieses Buch ist wie eine Bootsfahrt bei starkem Seegang und man weiß nicht, wo die Worte hinführen werden.

Nichts an diesem Buch ist stereotyp. Noch so eine Sache, die mich tief beeindruckt. Der Verlauf der Geschichte wirkt so natürlich und fügt sich wunderbar zusammen. Die Autorin schafft es, den Leser sämtliche Bandbreiten seiner Gefühlswelt durchlaufen zu lassen, denn ihre Schilderungen von Emotionen gehen direkt unter die Haut.

“Es gibt eine Menge fantastische Orte auf dieser Welt, die keine emotionalen Minenfelder sind.” – S. 349

Patry Francis’ Schreibstil lässt sich mit einem Wort beschreiben: Wunderschön. Sie ist eine Wortkünstlerin, die ihren Text mit Magie füllt. Keines ihrer Worte wirkt deplaziert oder überflüssig, alles fügt sich zu einem harmonischen Ensemble, das man sich am liebsten ohne Unterbrechung einverleiben möchte. Ihre Worte machen wirklich süchtig!

Fazit

Eigentlich ist es gar nicht möglich, diesem Buch mit einer so kurzen Rezension gerecht zu werden. Daher mein Tipp für euch: Lesen, lesen, lesen!