Rezension

Familie. Ein Puzzle aus Menschen

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek - David Whitehouse

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek
von David Whitehouse

Zum Inhalt: Bobby Nusku ist zwölf Jahre alt und nicht besonders glücklich. Seit seine Mutter spurlos verschwunden ist, lebt er bei seinem Vater, der sich mehr um seine neue Freundin und das Auffüllen des Schnapsregals, als um seinen Sohn kümmert. In der Schule wird er von seinen Mitschülern gepiesackt und verprügelt, und hätte er nicht Sunny, seinen einzigen Freund, der sich in den Kopf gesetzt hat, ein Cyborg zu werden, um seinen Freund Bobby vor den Widrigkeiten der Welt beschützen zu können, würde er vermutlich keinen Schritt mehr in die Schule setzen. Als jedoch Sunny nach der verunglückten Phase drei seiner Transformation zum Cyborg, die ihn beinahe das Leben kostet, plötzlich weit weg zieht, findet Bobby sich vollkommen allein wieder.
In dieser Situation trifft er auf die kleine Rosa, die die Welt mit besonderen Augen sieht und ihre Mutter Val. Val ist Putzfrau in einem zu einer Bibliothek umgebauten Bus und sie schenkt Bobby nicht nur das seit langem vermisste Gefühl von Familie, sondern außerdem den Schlüssel zur wunderbaren Welt der Bücher und Geschichten, ein Zufluchtsort von Bobbys oft so unglücklichem Alltag.
„In jedem Buch gibt es irgendeinen Hinweis auf dein eigenes Leben. […] Auf diese Weise sind die Geschichten alle miteinander verbunden. Du erweckst sie zum Leben, wenn du sie liest, und dann wirst du das, was darin passiert, auch selbst erleben.“ (S. 73)
Doch Bobbys Vater Bruce, so wenig er sich für seinen Sohn auch interessiert, gönnt seinem Sohn die neue Freundschaft nicht. Und so findet er Mittel und Wege, um Vals Verbindung zu Bobby fragwürdig aussehen zu lassen und versucht schließlich sogar mit Hilfe der Polizei, den Kontakt zu unterbinden.
Und so kommt es, dass Val sich plötzlich mit Rosa, Bobby und dem Hund Bert auf großer Abenteuerfahrt mit dem Bücherbus befindet. In ihrem Herzen spürt sie, dass sie Bobby, der schnell wie ein Sohn für sie geworden ist, aus seinem traurigen und lieblosen Leben retten will, ihn nicht den Launen seines Vaters überlassen will. Was zunächst als Fahrt für ein, zwei Tage geplant ist, wird schließlich zu einer Fahrt durch ganz England, mittlerweile verfolgt von der Polizei und den Medien, die „die hübsche Kindesentführerin“ Val schnell als wirksamen Schlagzeilen-Füller auserkoren haben.
Auf ihrem Weg schließt sich ihnen Joe an, der ebensio wie sie den Kontakt zur Öffentlichkeit und zur Polizei meidet, eine schwierige Vergangenheit hinter sich lässt und wie die drei Abenteuer-Fahrer schnell erkennt, dass Familie nicht durch gemeinsame Gene bestimmt wird, sondern man sie unverhofft auch in einem Wäldchen in einem verborgenen Bücherbus entdecken kann…
„Eine Familie muss nicht aus einem Vater, einer Mutter, einem Sohn und einer Tochter bestehen. Familie ist dort, wo es genug Liebe gibt. Und für diese vier war es eben jene ungleiche, außergewöhnliche Gruppe von Menschen… Der Junge, die Königin, die Prinzessin und der Höhlenmensch.“ (S. 282)

Eigene Meinung: Eine wunderbare, gefühlvolle Geschichte! Nach wenigen Zeilen war ich begeistert von der Zartheit, mit der David Whitehouse die Geschichte seiner Protagonisten erzählt. Da ist der kleine, einsame Bobby, der seine Mutter so sehr vermisst, dass er seine Zeit mit Erinnerungsstücken an sie, die er in Marmeladengläsern sammelt, verbringt und um den sich niemand kümmert, zuallerletzt sein verwahrloster Vater. Und zum Glück ist da Val, die ihrer geistig behinderten Tochter Rosa eine liebevolle Mutter ist und die in ihrem Herzen so viel Liebe und Wärme trägt, dass diese problemlos noch für Bobby ausreicht.
Die Geschichte selbst wird in einem guten Tempo erzählt, es macht unglaublich viel Spaß, die drei (später vier) auf ihrer Abenteuerfahrt durch England zu begleiten. Es muss wohl nicht extra erwähnt werden, dass einem Buchliebhaber bei den wunderbar ausgewählten Analogien zu zahlreichen bekannten Büchern, die in der Geschichte enthalten sind, das Herz aufgeht, und ich hab mir beim Lesen mehrere Male gewünscht, auch mit einer Tasse heißem Kakao in einem kuschligen Bus voller Bücher mitten in einem Wald zu stehen und in Geschichten zu schwelgen.
Und dann sind da immer wieder diese wunderbaren Sätze, die nicht nur aus so schönen Worten geformt sind, dass man direkt eine Stift zückt, um sie zu notieren, sondern die auch so essentielle Wahrheiten enthalten, dass man das Buch immer mal wieder glücklich an die Brust drücken möchte!
Volle Punktzahl für diese wunderbare Geschichte von David Whitehouse!
„So etwas wie ein Ende gibt es nicht […] Gutes ergibt sich aus Schlechtem und Schlechtes aus Gutem und so geht es immer weiter. Genau wie im Leben. Bücher sind das Leben. Es gibt nicht nur den Teil, den du liest. Sie fangen schon lange vorher an. Und sie gehen danach weiter. Alles geht ewig weiter. Du nimmst nur für ein paar Seiten daran teil, für die Dauer eines winzigen, aus der Zeit geschnittenen Fensters.“ (S. 138)