Rezension

Familie - Ursache von Glück und Leid

Der leuchtend blaue Faden - Anne Tyler

Der leuchtend blaue Faden
von Anne Tyler

Bewertet mit 5 Sternen

Ich muss gestehen, ich bin bekennender Fan von Anne Tyler. So konnte mich auch ihr neuestes Werk größtenteils überzeugen.

Wie so oft in ihren Romanen wird hier eine Familie aus Baltimore unter die Lupe genommen, die Whitshanks. Vater Red, Mutter Abby, die Kinder Amanda, Jeannie, Denny und Stem. Abby scheint sich mit ihrem allumfassenden Wesen überall einzumischen, sorgt aber auch dafür, dass „der Laden läuft“. Denny ist das schwarze Schaf der Familie. Schon früh versucht er, sich ihrem Einfluss zu entziehen. Immer wieder schockiert sein Verhalten die anderen Familienmitglieder. Stem und seine Frau Nora wirken dagegen wie die reinsten Engel. Doch macht sie das nicht unbedingt sympathischer.

Tyler versteht es, für jeden ihrer Charaktere Verständnis zu wecken, indem sie den Leser tief in sein Inneres blicken lässt, oft nur zwischen den Zeilen, was es umso interessanter macht. Dabei vermeidet sie es, ein Verhalten zu bewerten oder gar zu verurteilen. Sie lässt alles für den Leser offen, der seine Sympathien unbeeinflusst entwickeln kann. Wie ich in einer Runde mit mehreren Lesern feststellen konnte, erhalten die verschiedenen Figuren auch tatsächlich vollkommen unterschiedlich Sympathiepunkte beim Leser.

Nach und nach seziert die Autorin die Mitglieder der Familie, bis hin zu den längst verstorbenen Eltern von Red. Es ist nichts wirklich Besonderes an ihnen, und doch schafft Anne Tyler es, sie außergewöhnlich wirken zu lassen. Jeder von uns wird sich in einer der Figuren zumindest teilweise wiederfinden. Sie sind so authentisch dargestellt, dass man meint, den ein oder anderen schon einmal irgendwo kennengelernt zu haben.

Mit fortschreitender Handlung erscheint diese Familie immer mehr als löchriges Flickwerk. Nach außen wirkt sie auf den ersten Blick fast perfekt. Doch im Inneren gärt es zuweilen. Fast jeder scheint Geheimnisse vor den anderen zu haben, die nach und nach für den Leser aufgedeckt werden. Dadurch dass man nicht genügend miteinander kommuniziert, gerät vieles ins Arge. Bewusste und unbewusste Verletzungen führen zu Bitterkeit. Werden die einzelnen Personen einander verzeihen können? Wird jeder seinen ganz persönlichen Weg finden?

Anne Tyler schreibt leicht und klar. Hin und wieder blitzt eine Prise Humor auf, wenn auch nicht so viel wie in manch anderem ihrer Romane. Doch für ein kurzweiliges Lesevergnügen reicht es allemal.