Rezension

Familien und Ideologien

Die Enkelin -

Die Enkelin
von Bernhard Schlink

Bewertet mit 4.5 Sternen

 Familie kann man sich nicht aussuchen. Und dennoch heißt es: Blut ist dicker als Wasser. In Bernhard Schlinks ruhig und eindringlich erzählten Roman geht es um Familienbande und Verbindungen vor dem Hintergrund deutscher Teilung und Zeitgeschichte, um Loyalitäten und Liebe.

Aus Liebe zu Kaspar, dem Studenten aus dem Westen, hat Birgit einst die DDR verlassen, auf abenteuerlichem Weg. Die Ost-West-Romanze endete glücklich und auch wieder nicht. Denn Kaspar, der für Birgit sein Studium aufgab und Buchhändler wurde und die Studentin aus der DDR heirateten zwar, liebten einander, doch für Birgit reichte das wohl nicht aus. Immer wieder bricht sie aus dem Alltag aus - ein anderes Studium, eine neue Ausbildung, eine zweite, eine Auszeit im Ashram. Sie kommt immer wieder zurück, aber sie trinkt viel, zu viel. Als Kaspar sie, beide sind mittlerweile in ihren 70-ern, eines Tages tot in der Badewanne findet, kommt zur Trauer die unbeantwortete Frage: War es ein Unfall oder ein Suizid? Als sich dann auch noch ein Verleger bei ihm meldet, erfährt er ganz Neues über seine Frau: Gedichte habe sie geschrieben, an einem Romanmanuskript gearbeitet, der Verleger würde die Arbeiten gerne veröffentlichen, lobt das besondere Talent Birgits. Für Kaspar, den Mann mit der Liebe zu Büchern, muss es sein, als ob er seine Frau noch einmal verliert: Birgit hat mit einem Fremden über ihre Arbeit an einem Buch gesprochen, aber nicht mit ihm. Auf der Suche nach Antworten durchsucht Kaspar, der Birgits Privatsphäre immer gewahrt hat, ihr Arbeitszimmer und stößt in der Tat auf ein Manuskript, dass ihm ein Geheimnis entschlüsselt, dass Birgit nie geteilt hat. Um in Birgits Interesse zu handeln und den Abschluss zu finden, den sie nicht geschafft hat, folgt Kaspar ihren Spuren vor der Flucht, findet die Freundin aus Jugendtagen, die Birgit zur Seite gestanden hatte, als diese noch vor der Flucht von einem anderen Mann schwanger war. Kaspar ist sicher, Birgit hätte ihre Tochte gesucht und auf eine Annäherung und Aussöhnung gehofft. Seine Suche führt den Mann, der Gedichte liebt, ausgerechnet in ein Siedlungsdorf von Rechtsextremisten und in die Familie der 14-jährigen Enkelin Birgits. Zwischen dem Mädchen und dem alten Mann ist fast von Anfang an eine Verbindung da, auch wenn die völkischen Parolen ihn schockieren. Kann er einen Weg finden, dem Mädchen einen Zugang zu einem anderen Denken zu zeigen, ohne dass die Verbindung sofort wieder abbricht? Kaspar entwickelt einen Plan, der das junge Mädchen zumindest zweitweise dem Einfluss ihrer Familie und Gemeinschaft entzieht. Haben junge Menschen, die in eine extremistische Gemeinschaft hineingeboren wurden und von frühester Kindheit an von deren Werten beeinflusst wurden, überhaupt eine Chance, ein eigenständiges Wertesystem zu entwickeln, oder wird das als Loyalitätsbruch gegenüber der Familie empfunden? Das ist eine der Fragen, die Schlink in diesem Roman umtreiben. Wie schon beim "Vorleser" geht es auch hier um Entscheidungen des Einzelnen und Verantwortung, um Werte, die je nach Perspektive ganz unterschiedlich beurteilt werden. Ein nachdenklich stimmendes und stimmiges Buch.