Rezension

fantasievoll, magisch und wunderbar

Löwenzahnwein
von Ray Bradbury

Bewertet mit 5 Sternen

»Löwenzahnwein. Das Wort ging über die Zunge wie Sommer. Der Wein war Sommer, eingefangen und zugepropft.«

1928 – Der Sommer in Green Town/Illinois hält Einzug und der zwölfjährige Douglas Spaulding spürt zum ersten Mal ganz bewusst, dass er wirklich und wahrhaftig lebt. Die Erkenntnis aber, dass alles Leben demzufolge auch endlich ist, trifft ihn hart. Und so beschließt er, sein Dasein intensiv zu genießen. In einem gelben Block notiert er deshalb alle seine gewöhnlichen Rituale und zusätzlich die Erkenntnisse, die er zum ersten Mal gewinnt. Mit Doug zusammen erleben wir so einen ganz besonderen, magischen Sommer der nicht mehr völlig unbeschwerten Kindheit am Rand zum Erwachsenwerden.

»Egal, wie verzweifelt du auch versuchst, zu sein, was du mal warst, du kannst ja doch nur sein, was du hier und heute bist. Die Zeit hypnotisiert. Wenn du neun bist, glaubst du, du seist immer neun Jahre alt gewesen und würdest es auch immer bleiben. Wenn du dreißig bist, kommt es dir vor, als wärst du immer auf jenem leuchtenden Gipfel deiner Lebensmitte balanciert worden. Und wenn du dann siebzig wirst, bist du auf immer und ewig siebzig. Du bist in der Gegenwart, du bist gefangen in entweder einem jungen Jetzt oder einem alten Jetzt, aber ein anderes Jetzt gibt es nicht.«

In einzelnen, lose zusammenhängenden Episoden erzählt Ray Bradbury die Geschichte eines Sommers aus der Sicht eines zwölfjährigen Jungen, der kurz davor steht, seine Kindheit hinter sich zu lassen. Dem Roman wohnt eine ganz besondere Magie inne, die mich fesseln und stark bewegen konnte. Metaphorisch tragend sind Bradburys Bilder, sein Schreibstil poetisch und sein Humor unverkennbar. Die Worte berühren, klingen tief und lange nach, regen zum Nachdenken und Reflektieren an. Ich habe mich oft dabei ertappt, wie ich dem Erzählten zustimmen musste, es als eigene Wahrheit (wieder)erkannte.

»Ich sterbe heute ja nicht wirklich. Kein Mensch ist je gestorben, der eine Familie hatte. Ich werde noch lange dabeisein. (...) Das ist meine Antwort für jeden, der große Fragen stellt!«

Und was hat es mit dem titelgebenden Löwenzahnwein auf sich? Nun, diesen stellt Dougs Großvater jedes Jahr aufs Neue her, es ist eine liebgewonnene und fest verwurzelte Tradition im Hause Spaulding. Das Konservieren des Sommers in Flaschen, die dann während der langen, dunklen Wintermonate die warmen, sonnengelben Erinnerungen zurückbringen. Für Doug werden die aneinandergereihten Flaschen im Keller also zu kleinen Zeitkapseln. Sie erzählen von der ersten Löwenzahnblütenernte, dem Beerenpflücken im Wald, den neuen, federleichten Turnschuhen, der Glücksmaschine, die Unglück bringt, der menschlichen Zeitmaschine, der grünen Maschine, der letzten Fahrt der elektrischen Trambahn, dem Abschied von Freunden und der Uroma, von einer wunderbaren Seelenverwandtschaft, dem Einsamen, der mordet, von einer Hexe aus Wachs, die die Wahrheit spricht, einer wundersamen Heilung und schließlich von der Oma, die ihre Kochkünste verliert und dann wiederfindet.

Und so gehen wir mit Doug den Weg des Erwachsenwerdens gemeinsam, treten unsere eigene kleine, zuweilen melancholische Zeitreise an – zum ersten Mal als junger oder erneut als älterer Leser. So oder so, ist es eine lohnende Reise, die Erinnerungen weckt, ein Lächeln auf die Lippen und die Sonne ins Herz bringt. »Löwenzahnwein« – was für einen einzigartige und wunderbare Coming-Of-Age Geschichte!

Danke, Mr. Bradbury.