Rezension

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Fast wie eine deutsche Kino-Komödie

Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben
von Anika Decker

Wer gern ins Kino geht, um sich deutsche Liebeskomödien anzusehen, kommt bei diesem Roman voll auf seine Kosten. Der Handlungsbogen passt mehr als gut in Schema F, die Sprache ist locker-flockig flapsig, die Figuren herrlich überzeichnet – aber es gibt doch auch den gar nicht mal ungelungenen Versuch, ein bisschen den Blick auf die Doppelmoral der Gesellschaft in Bezug auf Frauen in der Mitte des Lebens zu lenken.

Nina ist fast 50, Mutter von zwei erwachsenen Kindern, von deren Vater geschieden und redlich bemüht, die neue Frau – eine junge Influencerin – nett zu finden, dabei ihre Rolle einerseits in dem chaotischen neuen Familienkonstrukt und andererseits in dem entfremdeten Dreiergespann aus ihr selbst, ihrer Schwester und der Mutter zu finden und sich außerdem in ökonomischer Hinsicht über Wasser zu halten. Dass der neue Job ausgerechnet bei einem Konzern ist, der bis zum Hals in einem Compliance-Verfahren steckt und bei dem Nina eher unfreiwillig, aber dafür umso engagierter zur Me-too-Unterstützerin wird, hilft nun auch nicht gerade dabei, sich irgendwelche Gedanken um ein nicht existentes, aber doch ersehntes Liebesleben zu machen. Zumal sie auch noch voll auf mit den Begleiterscheinungen der Menopause beschäftigt ist. Doch dann lernt sie David kennen: witzig, charmant, ebenso angewidert von der unnatürlichen, gefakten Friede-Freude-Sonnenschein-Mentalität der „gehobenen Gesellschaft“, ganz offensichtlich an ihr interessiert – und keine 30. Und mit dieser Konstellation beginnen die Probleme, mit denen sich eine Frau in der Mitte ihres Lebens und im Angesicht von festgefahrenen Rollenvorstellungen und überholter Geschlechterordnung konfrontiert sieht.

Anika Decker wählt für ihren Roman eine lockere und leichte Sprache und entwirft durch die Bank weg – von mäßig bis völlig – überzogene Figuren, die man sich so im realen Leben kaum vorstellen kann und möchte, die einem zugleich aber durch Social Media, Trash-TV und Co. doch erschreckend bekannt vorkommen. Bei der Absurdität einiger Situationen ist man unentschlossen, ob man nun herzlich lachen oder sich die Situation mal real vorstellen soll – fassungslos, mit offenem Mund und sprachlos darüber, was Menschen bereit sind zu tun, um stark oder gefasst oder nichtnachtragend zu wirken. Das verleiht der Handlung eine inhärente Leichtigkeit und trägt zum Komödiencharakter bei. 

Den Roman aber nur als leicht und als eine Komödie zu bezeichnen, würde ihm nicht gerecht werden. Es werden auch genug ernste Themen und Töne angeschlagen: Es geht um Familiendynamiken und wie sie sich verändern, wenn sie durch Ereignisse erschüttert werden. Viel Raum bekommt in diesem Zusammenhang zum Beispiel das zerrüttete Verhältnis von Nina, ihrer Schwester und deren Mutter. Auch das Thema sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch am Arbeitsplatz und die Hilflosigkeit von Frauen, insbesondere von freiberuflichen kunst- und kulturschaffenden Frauen, spielt eine große Rolle im Roman. Und wie wichtig in diesem Zusammenhang Frauensolidarität ist. Und mehr noch: Frauenfreundschaften. Diese wiederum spielen auch eine entscheidende Rolle beim beleuchten des Liebeslebens. Denn wer bei all diesen Themen noch nicht genug hat, der bekommt auch noch die aus Figurenperspektive als problematisch bewertete Liaison zwischen Nina und David serviert – und Nina ist dabei selbst ihre härteste Kritikerin. Bei diesem Handlungsstrang fühlt man sich nicht selten an eine amerikanische Teenie-Dramedy-Serie der 00er-Jahre erinnert. Und doch kommt hier auch die Kritik an hegemonialen Strukturen und internalisiertem Geschlechterverständnis weniger subtil, eher ganz offensichtlich und dadurch am stärksten zum Tragen. 

Leider bleibt das Potenzial, das im Kern des Plots (junger Mann liebt ältere Frau, ältere Frau liebt jüngeren Mann und dazwischen die Gesellschaft und hegemoniale Weiblichkeit) schlummert, über weite Teile ungenutzt und wird durch die Vielfalt an Themen zusätzlich verwässert. Alle Themen sind immens wichtig, aber um sie allesamt in so wenige Seiten zu packen, sind sie doch zu komplex.

Vielleicht ist es aber gerade die große Stärke des Romans, dass er überholte Denkweisen und Haltungen nicht radikal an den Pranger stellt und dekonstruiert, sondern „nur“ ein „Das kann doch nicht sein“ bei der Leserschaft provoziert.