Rezension

Faszinierend. Abgründig. Abstoßend. Wunderbar!

Binewskis: Verfall einer radioaktiven Familie - Katherine Dunn

Binewskis: Verfall einer radioaktiven Familie
von Katherine Dunn

Zum Inhalt: Der Roman „Binewskis: Verfall einer radioaktiven Familie“ erschien im Original bereits im Jahr 1989 in Amerika. Bis Monika Schmalz 2014 endlich mit dem Gerücht – das Werk sei nicht übersetzbar – aufräumte, und uns so Katherine Dunn’s Meisterwerk auch in der deutschen Übersetzung schenkte, erschienen 2014 im Berlin Verlag.

Worum geht es? Der Roman erzählt eine Familiengeschichte. Familienoberhaupt Aloysius „Al“ Binewski, nach eigener Auskunft „schönster Mann der Welt“, ist in einem Wanderzirkus aufgewachsen. Als das fahrende Unternehmen in finanzielle Schwierigkeiten gerät, überlegen sich Al und seine Frau, die wunderschöne Crystal Lil, eine „wässrig-kühle Bostoner Aristokratin“ mit „sternenfunkelnden Haaren“ eine besondere Lösung: sie experimentieren mit einem wechselnden Cocktail von radioaktiven Substanzen, rezeptpflichtigen Medikamenten, Drogen, Insektiziden und derlei mehr, um sich über die Jahre ihre eigene, genetisch mutierte Freak-Show heranzuzüchten. Als Ergebnis kommen dabei die „Traumkindchen“ der Binewskis heraus: als Erstgeborener Arturo, genannt „Arty“ oder Aqua Boy. Statt Gliedmaßen hat Arty Flossen und ist damit eine ziemliche Attraktion im Zirkus der Binewskis. Es folgen die siamesischen Zwillinge Iphigenia und  Electra, genannt „Iphy“ und „Elly“, der bucklige Albino-Zwerg Olympia, sowie Nesthäkchen Fortunato, der jedoch von allen nur „Chick“ gerufen wird. Chick ist das einzige der Kinder welches, v.a. in den Augen von Al und Lil, erschreckend normal aussieht. Kurz bevor sie ihn deswegen an der nächsten Tankstelle aussetzen, wendet sich das Blatt für Chick und seine Eltern erkennen, dass ihr jüngster Sohn aufgrund einer speziellen Gabe ihr Meisterstück sein könnte. Und nicht alle Experimente der Eltern Binewski glücken – davon zeugen diverse Totgeburten oder Kinder, die nur kurze Zeit gelebt haben und, eingelegt in Formaldehyd-gefüllten Gläsern, in einem separaten Caravan zur Schau gestellt werden.

Schon früh lernen die Binewski-Kinder, dass Abweichen von der Norm Trumpf ist – sichert es doch die Anerkennung der Eltern, das Klingeln der Zirkuskassen und eine eigene Fangemeinde im Publikum. So hadert auch Olympia, die außer ihrem Albino-Teint, der Zwergwüchsigkeit und ihrem Buckel nichts vorzuweisen hat, mir ihrem Äußeren: „Ich habe mir gewünscht, ich hätte zwei Köpfe. Oder dass ich unsichtbar wäre. Ich habe mir einen Fischschwanz gewünscht. Ich habe mir gewünscht, besonderer zu sein.“

Kein Wunder also, dass die Binewski-Kinder, allen voran Arty, untereinander um die Gunst der Eltern und des Publikums buhlen. Besonders Arty sichert sich auf höchst grausame und rücksichtslose Art seinen Platz als unangefochtene Nummer 1 unter den Geschwistern, sondern schart mit der Zeit sogar eine eigene Jüngerschaft – die Arturo-Sekte – um sich. Als seine Gefolgschaft immer größer wird, verfällt er dem Größenwahn und die ganze Familie steuert auf einen sich unaufhaltsam nähernden Abhang zu.

Erzählt wird die Geschichte auf zwei unterschiedlichen Ebenen von Olympia, dem dritten oder vierten Kind der Binewskis,“ je nachdem, ob man Köpfe oder Hinterteile zählt“. Während sie auf der ersten Erzählebene das Familienleben der Binewskis, das Verhältnis der Geschwister untereinander und ihre eigene, höchst merkwürdige Beziehung zu ihrem Bruder Arturo schildert, liegen die Jahre des Familienlebens im Wanderzirkus auf der zweiten Erzählebene („Jetztzeit-Notizen“) bereits über 20  Jahre zurück. In der Jetztzeit lebt Olympia mit ihrer Mutter Lil, sowie ihrer eigenen Tochter Miranda gemeinsam in einem Haus in Portland. Genauso wenig, wie Lil noch weiß, dass Olympia ihre Tochter ist, ist sich Miranda darüber bewusst, die Tochter von Olympia zu sein. Und Olympia selbst hat gute Gründe, daran nichts zu ändern.

Der vorliegende Roman ist der Brief Olympias an ihre Tochter Miranda, in welchem sie ihr schließlich von ihrer Abstammung und der Geschichte ihrer Familie erzählt.

Eigene Meinung: Lange war ich ratlos, wie ich die Rezension zu diesem höchst ungewöhnlichen Buch verfassen sollte. Es fällt mir schwer, all die unterschiedlichen Aspekte, die dieses Buch besonders und bemerkenswert machen, und die dabei so unglaublich stimmig zu einem großen Ganzen verwoben sind, hervorzuheben.

Das Buch ist Vieles – es ist ein Lesegenuss, es ist aufrüttelnd, es ist ironisch, unterhaltsam, gleichzeitig aber auch abgründig, verstörend, befremdlich, und oftmals auch abstoßend.

Alles scheint auf den Kopf gestellt, nicht nur das Schönheitsideal und nicht nur die Definition von Normal und Besonders. Sondern eigentlich alle bürgerlichen Werte, auch der Begriff von elterlicher Fürsorge und Verantwortung.

Die Autorin schrieb 17 Jahre an ihrem Werk, und dabei ist ihr eine auf den Punkt komponierte, scharfsinnige und faszinierende Gesellschafts-Kritik gelungen. Zwischen all dem Popcorn und Zirkusflitter geht es um den Wahnsinn, mit dem Menschen sich gegenseitig beurteilen, nach Dingen streben, die sie nicht sind, sich verbiegen, verrenken, im Streben nach Anerkennung und dem  schönen Schein.

Indem Katherine Dunn das „Unnormale“, das, was wir gewöhnlich als „krank“ oder hässlich bezeichnen, als das Erstrebenswerte darstellt, indem sie die Anhänger der Arturo-Sekte sich selbst verstümmeln lässt, um ihrem gliedmaßen-losen Idol so nahe wie möglich zu kommen, hält sie der oftmals grenzen- und kopflos nach Äußerlichkeiten und Ansehen strebenden Gesellschaft einen Spiegel vor.  Damit ist ihr Buch sowohl 1989, dem Jahr, in dem es in den USA erschien, als auch in unserer heutigen Gesellschaft, von großer Relevanz.

Die Geschichte selbst hat mich fasziniert, wie nur wenige zuvor. Ich habe das Buch in wenigen Tagen verschlungen, und so oft ich gedacht habe, dass es jetzt nicht mehr krasser kommen kann, so oft wurde ich eines besseren belehrt. Dabei betreibt die Autorin keine Effekthascherei , sondern zieht den Leser durch seine skurrilen und oftmals dennoch sehr nachvollziehbare Charaktere, die sich rücksichtslos, tabu-brechend und oftmals grotesk verhalten, immer tiefer in die Welt des Wanderzirkus Binewski. Katherine Dunn gibt ihren Lesern Zuckerbrot und Peitsche, indem sie zum einen sehr stimmungsvoll und teilweise auch melancholisch die wundersame Zirkuswelt beschreibt, in der die Familie Binewski immer zusammen und doch allein ist „Wir waren ein Wanderzirkus und lebten mit dem Gezeitenstrom der Gesichter, die auftauchten, anheuerten, ein paar tausend Meilen blieben und dann eines Tages verschwunden waren. Wir Binewskis blieben unter uns. Nur die Familie war immer gleich.“ Zum anderen stößt sie den Leser immer wieder durch die rücksichtslos geschilderten Szenen und Tabubrüche vor den Kopf, lässt die Lesermoral in nahezu jedem Kapitel tiefe Schrammen bekommen.

Dieses Buch bekommt von mir eine uneingeschränkte Leseempfehlung! Es ist intelligent und mitreißend geschrieben, es prangert an, erhebt dabei aber niemals den Zeigefinger, sondern schüttelt den Leser einmal gründlich durch und verändert den eigenen Blick auf  Andersartigkeit und Moral!