Rezension

Faszinierend beklemmendes Zukunftsszenario

Wild - Lena Klassen

Wild
von Lena Klassen

"LASS DEN GLÜCKSSTROM NIE ABREISSEN"

Zum Inhalt

Pi lebt in Neustadt und geht in die 11. Klasse. Sie proben gerade ein Theaterstück: Romeo und Julia. Dabei sollen die Jugendlichen lernen, welche „bösen“ Gefühle es früher gab – früher, in der finsteren Moderne. 
Schon seit Kindheitstagen ist Pi mit Lucky befreundet und sie hätte ihn sehr gerne als Partner zugewiesen bekommen, doch das System hat ihm jemand anderen zugewiesen – jemand, dessen genetische Kompatibilität besser zu ihm passt. Das dieser Jemand gerade Moon ist, Pis beste Freundin, macht die Lage für sie nicht gerade leicht.

„Die Glückszentrale stellte die passenden Paare zusammen. Später heiratete man und bekam zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen.
Das war Glück.“
S. 35

Aber eigentlich sollte es ihr egal sein, denn Gefühle wie Neid, Eifersucht oder Hass gibt es in dieser Gesellschaft nicht, nur außerhalb der Mauern, wo die „Wilden“ wohnen. Doch Pi merkt, dass sie anders ist, dass etwas mit ihr nicht stimmt und ihre Angst vor den ungewohnten Gefühlen nimmt zu. Als ein kleiner Junge direkt vor ihren Augen stirbt, kann sie diese aber kaum mehr zurückhalten und sie muss sich sehr zusammenreißen. Niemand darf etwas merken, denn wenn bei einem Menschen die „wilden“ Gefühle durchkommen, droht ihnen der Rauswurf aus der Stadt – in die Wildnis.

„Wilde Gefühle. Leid. Leidenschaft. Aggression. Daraus erwachsen Kriege. Das ist der böse Keim in der Seele eines jeden Menschen. Das sind die Altlasten, die wir abwerfen auf dem Weg zum neuen Menschen.“ Seite 62

Einen schönen Buchtrailer findet ihr auf der Verlagsseite

Meine Meinung

Das Cover ist wunderschön und passend zum Inhalt. Auch die Illustrationen der Blätter an den Kapitelanfängen finde ich hübsch, da sich die Handlung um die Natur dreht – in all ihren Facetten. Man ist sofort in der Geschichte drin und erlebt alles aus Pis Sicht in der Ich-Form in einer bildhaften Sprache.

„Eine Insel aus Gefühl in einem Meer aus heiterer Gelassenheit.“ S. 340

Die Welt, die hier beschrieben wird, scheint eine heile Welt zu sein – allen geht es gut, alle halten sich an die Regeln, sogar hübsch ist jeder, denn Schönheitsoperationen stehen auf der Tagesordnung. Die Menschen in Pis Welt bekommen Injektionen, eine Art „flüssiges Glück“, welches sie vor unliebsamen „wilden“ Gefühlen bewahren soll. Aber selbst dieses „Glück“ muss man erzwingen, denn die Strafe auf eine versäumte Injektion ist endgültig: die Verbannung in die „Wildnis“.

„Aus Leidenschaft wurden Menschen umgebracht und Kriege begonnen. So etwas darf  es nie wieder geben.“ S. 10

So unter Drogen gesetzt und sämtlicher Gefühle beraubt, erleben sie die Realität wie einen Traum; ohne Mitleid, ohne Trauer, ohne Hass, ohne Liebe. Als bei Pi die Injektion versagt, sieht sie die Welt plötzlich viel klarer und erkennt, dass sie vorher alles nur unscharf, wie durch einen Nebel wahrgenommen hat. Sie erlebt echte Gefühle und diese Veränderungen sind sehr anschaulich beschrieben.

„Was sonst wie ein einziger Brei aus Geräuschen und Farben um mich herumgewabert hatte, faszinierte mich jetzt mit seiner Schärfe.“ S. 89

Besonders interessant sind diese Gefühle aus der Sicht von jemandem, der sie nicht kennt, nicht einschätzen und nicht damit umgehen kann. Die Menschen haben Angst davor, Angst auch vor den Gewalten der Natur, den Pflanzen, Bakterien oder auch Krankheiten. Ihr Ziel ist es, perfekt zu sein, ohne jeden Makel.

„Der neue Mensch begeht keine kriminellen Handlungen, denn Verbrechen beruhen auf Gier und Leidenschaft, Aggression und Hass auf die Gesellschaft.“ Seite 32

In Pi entwickelt sich ein Kampf, um diese neuen Gefühle zu verstehen und zu lernen, damit umzugehen. In der zweiten Hälfte des Buches spürt man davon nicht mehr so viel, hier wird einiges nur oberflächlich beschrieben, da hätte ich mir gewünscht, dass man tiefer darin eintaucht, wie sie ihre Gefühle wahrnimmt. Durch die überraschenden Wendungen bleibt es bis zum Schluss spannend mit der Frage: Wie wird sie sich entscheiden?

Das ernste Thema wird durch die Sichtweise von Pi mit einer Unbeschwertheit und Naivität aufgegriffen, die dadurch umso mehr zum Nachdenken anregt. Es erinnert mich auch an das Motiv im Buch „Seelen“: Was macht einen Menschen aus? Wie wichtig sind für die Gesellschaft und das Zusammenleben die negativen Gefühle und welche Motivation lösen sie in uns aus? Und was bedeutet Freiheit für uns? In dieser Geschichte wird für mich klar, dass das Liebenswerte des Menschen in der Vielfältigkeit liegt und gerade darin, mit all seinen Gefühlen, ob positiv oder negativ, umgehen zu können und das Beste daraus zu machen.

Fazit

Eine leichte Lektüre mit einem ernsten Thema, deren Umsetzung mich völlig gefesselt hat. Eine fiktive Zukunftsvision, die erschreckend und gleichzeitig reizvoll scheint, bis zum bitteren Erwachen und der Erkenntnis: Nur durch die Dunkelheit kann ich erfahren, was Licht ist.

Vielen Dank an den Drachenmondverlag für das Rezensionsexemplar!

© Aleshanee
blog4aleshanee.blogspot.de