Rezension

Faszinierender Bericht einer starken Frau

Über allem der Berg - Helma Schimke

Über allem der Berg
von Helma Schimke

Bewertet mit 4.5 Sternen

»Für uns Frauen ist nicht der Berg selbst das Schwierige, sondern was sich um ihn herum baut und sich gegen uns stellt. Niemand kann uns helfen, diese Widerstände zu überwinden. Im letzten sind wir immer allein … Wichtig ist ja nur das eine: Das zu leben, was man ist…«

Ich gestehe, dass ich Helma Schimke erst mit diesem Buch kennenlernte. Ich las über eine faszinierende Frau, die als Architektin arbeitete und in den 1950er und 1960er Jahren zu den weltweit besten Bergsteigerinnen zählte. Schon früh hatte sie mit gesellschaftlichen Akzeptanzproblemen zu kämpfen, wollte sie doch gegen den Zeitgeist in einem „Männerberuf“ arbeiten und sich nicht mit einer Rolle als Hausfrau und Mutter begnügen.

Dazu kamen ihre Leidenschaft und ihre große Begabung für das Bergsteigen. Ohne es gezielt darauf angelegt zu haben, wurde sie zu einer Pionierin des Frauenalpinismus – einfach, weil sie das tat, was sie wollte und für sich als das Beste ansah.

 

1961 kam ihr Mann, ebenfalls ein passionierter Bergsteiger, bei einem Lawinenunglück in der Watzmann-Ostwand ums Leben. Für die Mutter von drei kleinen Kindern ein Schicksalsschlag, eine wahre Tragödie. In diesem Buch schildert sie in großer Offenheit, wie sie die dramatischen Tage rund um das Unglück erlebte, wie sie anschließend weiterlebte, was ihr Mut machte und was das Leben erschwerte.

 

Das jetzt als Neuauflage herausgekommene Buch erschien erstmals 1964 und ist geprägt von dem Gefühlschaos, das durch den Tod des geliebten Mannes und die folgenden Widrigkeiten hervorgerufen wurde. Der erste Teil befasst sich sehr detailliert mit dem Unglück und der – leider erfolglosen – Rettungsaktion. Das ist Dramatik pur, man kann beim Lesen gar nicht anders, als mitzuleiden und ich für mein Teil konnte das Buch nicht aus der Hand legen.

 

Im weiteren Teil geht es um die Zeit „danach“. Nachdem sie offenbar eine Zeitlang damit ausgesetzt hatte, beginnt sie wieder mit dem Bergsteigen. Und sie stellt fest, wie sehr es ihr hilft, das Geschehene zu verarbeiten, wie sehr sie in ihren geliebten Bergen zur Ruhe kommt, dort ganz zu sich findet und alles hinter sich lassen kann. Und das Abschalten wird ihr nicht leicht gemacht, denn aus der Gesellschaft heraus werden ihr Vorwürfe gemacht, wird sie verantwortungslos genannt, weil sie als Mutter kleiner Kinder auf Berge steigt.

 

Dieser, ich nenne ihn mal „Aufarbeitungsteil“ des Buchs, wird von Berichten über Bergtouren dominiert. Schimke schildert eigene Erlebnisse und die von befreundeten Bergsteigern. Im Zentrum all dieser Berichte steht der Berg und das Leben für die Berge. Es sind Berichte voller Strapazen und Gefahren und zugleich voller Faszination und atemberaubender Schönheit. Wer, wie ich, zu viel Respekt vor Bergen hat, um sie anders als nur wandernd zu erkunden, liest dies mit einem Gefühl, das zwischen Staunen, Bewunderung und Befremden schwankt. Für den Nichtbergsteiger kann es zwischendurch zu Verständnisproblemen kommen, weil regelmäßig Fachausdrücke verwendet werden. Das Buch ist nicht so konzipiert, interessierten Lesern etwas über das Bergsteigen zu erklären, sondern es ist eine sehr persönliche Schilderung, die noch dazu in wörtlichen Zitaten viel Dialekt bringt. Da es keine Übersetzungshilfen im Buch gibt, bleibt dem hochdeutsch sprechenden Leser da nur ein Mix aus raten und googeln. Während mich der erste, dramatische, Teil ans Buch fesselte, gelang das im zweiten Teil nicht immer. Abschnitte, in denen immer wieder ausführlich die persönliche Beziehung zu den Bergen behandelt wurde, kamen bei den Betroffenen sicher aus vollem Herzen, mir gerieten sie aber manchmal zu theoretisch.

 

Im Mittelteil finden sich einige tolle, teils sehr persönliche Fotos. Ich habe immer wieder während des Lesens dorthin geblättert. In der Summe habe ich mit diesem Buch eine beeindruckende und starke Frau kennengelernt, der die Liebe zu den Bergen eine beneidenswert optimistische Lebenseinstellung gab. Selbst im fortgeschrittenen Alter kletterte sie noch, verstarb erst 2018 im Alter von 92 Jahren.  

 

Fazit: Faszinierender Bericht einer starken Frau, sehr offen und geprägt von der Liebe zu den Bergen.

 

»Zum Berg, in seine Stille und Einsamkeit, zu den Menschen, die auf ihm wohnen, trage ich hinauf, womit ich unten nicht fertig werde. Und jedes Mal, wenn ich zurückkomme, meine ich, das Leben sei wieder ein Stück einfacher geworden.«