Rezension

Faszinierender psychologischer Schnitt durch eine Familie, die es hinter der Fassade schwer hat

Was ich euch nicht erzählte - Celeste Ng

Was ich euch nicht erzählte
von Celeste Ng

Bewertet mit 4.5 Sternen

Ein Buch so düster und ruhig wie sein Cover und Titel, aber vielschichtig und psychologisch faszinierend

Inhalt

Die 16-jährige Lydia Lee ist im See ertrunken und während die Polizei und die meisten Bewohner der Kleinstadt es als Selbstmord eines stillen und unglücklichen Mädchens einstufen, versucht ihre Familie - Vater, Mutter, älterer Bruder und jüngere Schwester - verzweifelt zu bereifen, was und vor allem warum es geschehen ist.

Meinung

Zuerst habe ich das Cover von "Was ich euch nicht erzählte" nicht verstanden, doch dann ist mir aufgegangen, wie vielschichtig und vor allem unglaublich düster und deprimierend es ist - genau wie der Titel und das Buch, zu dem es gehört. Und das ist ein Riesenkompliment, denn dieser Roman hat mich so schwer beeindruckt wie schon lange kein Buch mehr.
(Die erwähnte Bedeutung des Covers: Lydia ist im See ertrunken. Das Cover zeigt Schilf und den Himmel von unten - quasi das letzte, was sie gesehen hat.)

"Was ich euch nicht erzählte" ist kein Thriller. Es geht nicht darum, einen Mörder zu finden oder herauszufinden, wer Lydia hätte wehtun wollen. Viel mehr ist das Buch ein Portrait der Lees, Lydias Familie. Es greift tief in die Vergangenheit zurück, denn selbst die Kindheit der Eltern hat eine Bedeutung für Lydias Tod. Es nimmt die Figuren, ihre Träume und Sehnsüchte, ihre Ängste, ihre geheime Wut auseinander und zeigt - dem Titel entsprechend - was sie sich alles nicht erzählten.
Wirklich viel Handlung hat der Roman nicht, da er sich zu großen Teilen mit der Vergangenheit (der weiter entfernten und der kurz vor Lydias Tod) und den Gedankengängen der Figuren befasst, weshalb er ab und zu etwas langatmig wirken kann, doch gerade diese Charakterstudien erzeugen ein psychologisch unglaublich dichtes und faszinierendes Bild, das zeigt, wie sehr unausgesprochene und unterdrückte Wünsche und Ängste nicht nur einem selbst, sondern auch den Menschen in seiner Umgebung schaden können.

Einzelne Absätze widmen sich oft ganz und gar einer Figur, besonders wenn es um Rückblicke in die Vergangenheit geht, doch "Was ich euch nicht erzählte" hat einen auktorialen (allwissenden) Erzähler, sodass man teilweise in einer Szene die Gedanken und Gefühle aller Beteiligten Figuren erfährt. Gleichzeitig bleibt der Stil durch diese Erzählweise neutral und sachlich, beschreibt sämtliche Emotionen wie ein unbeteiligter Beobachter, der die Familie studiert. Man wird nicht zugunsten einer der Figuren beeinflusst; man kann selbst entscheiden, ob man sie sympathisch findet.

Der Roman durchleuchtet alle seine Figuren genauestens; man erfährt jedes noch so unangenehme Detail, was die Charaktere trotz der wenigen Handlung so lebendig erscheinen lässt, wie ich es in Büchern selten gesehen habe. Besonders die Auswirkungen, die die Vergangenheit und bestimmte Erfahrungen noch Jahre später auf den Charakter und die Entscheidungen eines Menschen haben, empfand ich als mehr als faszinierend.

Doch gerade, weil es sich um keinen Thriller handelt, gibt es auch keine thrillertypische Auflösung. Das Buch handelt vom Umgang der Familie mit Lydias Tod, aber vor allem auch von der Familiengeschichte, die wiederum erklärt, wieso viele von ihnen Schuldgefühle empfinden. Es arbeitet nicht auf eine Lösung hin und man sollte daher auch keine erwarten.

Fazit

"Was ich euch nicht erzählte" ist ein psychologisch absolut faszinierendes Portrait, das eine auf den ersten Blick glücklich wirkende Familie einmal komplett auseinandernimmt und unangenehme Wahrheiten zutagefördert, die dem Leser und auch den Figuren zeigen, wie sehr unausgesprochene Sehnsüchte einen und seine ganze Familie innerlich zerfressen können. Der ganze Roman ist sehr ruhig und weist keine durchgehende Handlung oder befriedigende Auflösung auf, doch die gelungene, analysierende Erzählweise und die vielschichtigen Charaktere mit ihren verborgenen Träumen und Ängsten sind mehr als faszinierend, wenn man sich für diese psychologische Seite interessiert. Ich vergebe sehr gute 4,5 Sterne.