Rezension

Fehlende Twists und Charakterentwicklung machten die zweite Hälfte nach tollem Auftakt zäh

Die Reise der Amy Snow - Tracy Rees

Die Reise der Amy Snow
von Tracy Rees

Starke erste Hälfte.

Amy Snow verdankt ihren Namen dem Wetter und der Lieblingspuppe der achtjährigen Aurelia Vennaway, die Amy als Säugling nackt im Schnee findet und mit nach Hause nimmt. Zu einem hohen Preis: Aurelias Eltern, Lady und Lord Vennaway, scheinen Amy regelrecht zu hassen. Sie erlauben Aurelia zwar Amy zu 'behalten', beharren aber darauf, dass das Kind in der Küche leben muss und ihnen niemals unter die Augen treten darf. Teils Aschenputtel, teils Jane Eyre wächst die Waise Amy in einem Klima völliger Gefühlskälte bei den betuchten Vennaways auf. Gleichzeitig überhäuft die kleine Aurelia Amy mit vorbehaltloser Liebe ' sie ist ihr große Schwester, Freundin, Mutter und Mentorin zugleich. So wird das Band der beiden Mädchen zum Entsetzen von Aurelias Eltern mit den Jahren immer stärker.

Der emotionale Faktor der Geschichte ist zu Beginn groß und steigert sich, als Aurelia Mitte zwanzig an Herzschwäche stirbt und Amys zarter, behütender Kokon zerplatzt - die Vennaways warten gerade einmal die Testamentseröffnung ab, dann werfen sie Amy aus dem Haus. Doch Aurelia hat vorgesorgt. Mittels Briefen nimmt sie Amy (und uns Leser) mit auf eine geheimnisvolle Schnitzeljagd quer durch England, an derem Ende ein Geheimnis wartet.

Wenn das Buch vom Verlag nicht so geschickt beworben worden wäre, wäre es mir wohl nicht aufgefallen. Die angekündigte Schnitzeljagd jedoch rief in mir sofort die alte Drei-Fragezeichen-Spürnase auf den Plan. Aber, um es gleich vorweg zu nehmen: Die rätselhaften Briefe, die Aurelia hinterlässt, sind allein für Amy bestimmt. Der Leser hat keine Chance, hier als Watson behilflich zu sein.

Dennoch wirken die Briefe hervorragend als roter Faden ' sie führen die realitätsfremde Amy in die große Welt, legen kleine und große Geheimnisse frei und sind für Amy Stütze und Sinnhaftigkeit in einer Situation völliger Ungewissheit.

Bis zur Hälfte hat mich Amys Geschichte regelrecht gefangen genommen. Weil der Erzählstil sehr angenehm ist (wenngleich häufig zu modern für die Epoche), habe ich das Buch nach Lesepausen immer wieder gerne zur Hand genommen, habe hier und da gelächelt, ab und zu ein Tränchen verdrückt und mich gefragt, welche Geheimnisse es wohl zu lüften gibt.

Zunehmend erstaunlich fand ich allerdings, wie wenig Bezug man zu dem Charakter Amy Snow entwickelt. Amy ist eine talentierte Erzählerin, doch durch eine außergewöhnliche Persönlichkeit glänzt sie beileibe nicht. Fast alle anderen Figuren sind stärker konturiert. Die lebhafte Aurelia, die hartherzige Lady Vennaway und später die spöttisch-schlaue Mrs Riverthorpe. Was hat Amy ihnen entgegen zu setzen? Hartnäckigkeit und Vertrauen, die leider immer wieder ins Wanken geraten. Ansonsten vornehmlich Nettigkeit.

Anfangs störte mich Amys schwache Charakterzeichnung nicht, denn ich rechnete fest mit einer Entwicklung (schließlich impliziert eine Reise eine Veränderung, oder nicht?). Doch leider hat Tracy Rees ihre Protagonistin kaum weiter ausgearbeitet. Bei Jane Austen mit ihrer Liebe für Überzeichnungen und außergewöhnliche Persönlichkeiten hätte es Amy Snow wohl nicht einmal zur Nebenfigur geschafft.

Dann verliebt sich Amy. Und ohne zuviel verraten zu wollen' ab hier habe ich den Draht zu der Erzählerin gänzlich verloren. Zum einen fiel nun die fehlende Weiterentwicklung von Amy deutlich ins Gewicht, zum anderen breitete sich die Liebesgeschichte so fade, temperamentlos und langatmig vor mir aus, dass ich immer wieder einmal ein paar Seiten überblätterte. Allein der sarkastische Charakter Mrs Riverthorpe hat mich über diese Strecken hinweg gerettet.

Das Buch findet dann auch leider nicht zu anfänglicher Stärke zurück, sondern steuert ' im Gegenteil ' zielgenau in immer seichtere Gewässer. Es war so, als würde die Handlung bereits ab der Mitte langsam ausplätschern. Konflikte, Reibungen, Enttäuschungen; all die Hürden, die ich eigentlich erwartet hatte, wurden immer niedriger und niedriger. Das Rätsel der Briefe ' das muss ich zugeben ' wird am Ende zwar stimmig aufgelöst, die Lösung aber wurde zu früh angedeutet, um die Geschichte wenigstens mit einem Aha-Effekt ausklingen zu lassen.

Die Frage ist, welcher Eindruck bleibt am Ende von dem Buch?

'Die Reise der Amy Snow' ist Gewinner eines britischen Schreibwettbewerbs und hat bereits viele gute Kritiken eingeheimst. Es scheint also für viele Leser(-innen) insgesamt eine schöne Lektüre zu sein. Für mich hat sie einen eher bitteren Beigeschmack: Die tolle Idee einer ungewöhnlichen Frauenfreundschaft kombiniert mit einer rätselhaften Schnitzeljagd verblassten zunehmend vor der mangelnden Entwicklung der Hauptfigur, den vielen Längen und seichten Passagen. So leid es mir tut: Am Ende war das Buch näher an einem Heft- als an einem Bildungsroman.