Rezension

Feinfühliges Ökodrama

Darwyne -

Darwyne
von Colin Niel

Bewertet mit 5 Sternen

„…die Artenvielfalt des Amazonas ist wie ein nie erforschter Kontinent. […] Genau darin liegt eine der Tragödien des modernen Menschen, niemand ist mehr in der Lage, auch nur einen Vogel zu benennen. Genau das bringt die Menschen dazu, den Teil der Welt, den sie jetzt Natur nennen, [….] zu zerstören.

Ein ungewöhnliches Setting erwartet uns im neuen Roman von Colin Niel: Der Amazonas-Regenwald in Französisch-Guayana, ein Land, das offiziell zu Frankreich und ergo Europa gehört und tatsächlich, Fun Fact, den Euro als Währung hat. Setting zwei: Ein Slum am Rande dieses Regenwalds, in dem drei der Hauptfiguren leben.

Vier Figuren gibt es, die die Handlung des Romans vorantreiben: Darwyne, ein eigenartiger 10jähriger Junge, der alles tun würde, damit seine schöne Mutter ihn liebt, Yolanda, die ihren Sohn gern lieben würde, wenn er denn endlich würde wie „die anderen“, die Sozialarbeiterin Mathurine, die den Urwald liebt und seit langem vergeblich versucht, schwanger zu werden, und Jhonson, der Yolanda liebt, aber auf Darwyne gerne verzichten würde.

So viel Liebe ergibt viel Licht, aber auch tiefe Schatten. Darwynes Mutter scheint alles (einschließlich Jhonson) im Griff zu haben – aber zu welchem Preis, und wer muss ihn zahlen? Und was ist aus ihren sieben verflossenen Liebhabern geworden, die sämtlich urplötzlich verschwunden sind?

Mathurine, die auf die Familie aufmerksam wurde, weil ein anonymer Anrufer von Kindesmissbrauch berichtete, ahnt bald, welche Fähigkeiten Darwyne verbirgt. Feinfühlig beschreibt Niel die Annäherung zwischen ihr und ihrem Schützling. Ihre für den Jungen ungewohnte Wertschätzung stößt eine folgenschwere Entwicklung an.

Niel gelingt es, uns die Welt aus der ungewöhnlichen Sicht Darwynes sehen zu lassen. Man merkt, dass er selbst längere Zeit in Französisch-Guayana gelebt hat. Der Regenwald wird zur eigenständigen Figur mit seinem Nebel, Regen und der vitalen Vegetation. Er ist schön, wohltätig und üppig – und schmutzig, wild und gefährlich für den, der ihn nicht zu lesen versteht. Das gleiche gilt für das prekäre Leben in Bois Sec, dem Slum einer ungenannten Stadt. Eine fremde Gesellschaft am anderen Ende der Welt, dem Dschungel entrissen, der jeden Tag zurückgedrängt werden muss. 

Man kann die Figuren auch als Symbole lesen: Hierbei steht Darwyne für die Natur, Yolanda für die Menschheit, die versucht, die Natur zu formen, ohne sie zu begreifen, während diese im Inneren unzähmbar bleibt. Mit Darwyne hat Niel eine Figur geschaffen, die indigene Mythen mit dem Entwurf eines neuen Menschen verbindet, der Mensch und Natur wieder integrieren kann. Darin sehe ich auch den Bezug zur Namensgebung: Darwyne klingt nicht ohne Grund so ähnlich wie der Entdecker der Evolution. 

Der Verlag bezeichnet das Buch als Thriller, und ein Pageturner ist es allemal. Aber es ist auch ein atmosphärischer Roman, der uns in eine bildgewaltige, ferne und fremde Welt eintauchen lässt und weitgehend ohne explizite Gewalt auskommt. Stattdessen  lässt er uns in menschliche Abgründe schauen und vermittelt einen leisen Schrecken, der allmählich entsteht und einen schaudern macht. Dazu lädt er zur Reflektion ein – über Armut und Ehrgeiz, Mutterliebe und Grausamkeit, Anderssein und Ausgrenzung, Mensch und Natur.

Spannungsliteratur mit Tiefgang.