Rezension

Fesselnd bis zur letzten Seite

Völkerschau - Gregor Müller

Völkerschau
von Gregor Müller

Bewertet mit 5 Sternen

Autor Gregor Müller nimmt uns in das Leipzig kurz vor der Jahrhundertwende mit.

Man schreibt das Jahr 1898. Sisi, die Kaiserin von Österreich-Ungarn, die in Sachsen beliebt ist, ist eben von Luigi Lucheni, einem italienischen Anarchisten ermordet worden. Aktiven Lehrerinnen ist es verboten zu heiraten und der gesellschaftliche Status der Frauen ist mit diesem Zitat klar umrissen:

 

"Wir Frauen stehen sogar unter dem dritten Stand, es geht uns schlimmer noch als den Juden."

 

So weit das historische Umfeld.

 

Die leidenschaftliche Lehrerin Hannah kann auf Grund ihrer Blindheit nach einer Infektion ihren Beruf nicht mehr ausüben. Sie ist Leidtragende des Lehrerinnenzölibat, der sie nun ledig und einer kleinen Rente zurücklässt. Nur eine Versorgungsheirat einzugehen, will sie nicht. Dabei hat sie noch Glück im Unglück, da sie eine Wohnung und ein bisschen Geld geerbt hat. Deswegen kann sie sich ein Dienstmädchen, Grete, leisten, die ihr sowohl im Haushalt als auch bei allerlei persönlichen Handreichungen zur Hand geht.

Doch um den täglichen Unterhalt ein wenig aufzubessern, vermietet sie ein Zimmer an Joseph Kreiser, einem ehemaligen Schüler, der nun als Criminalcommissar tätig ist.

 

Joseph Kreiser bringt auch immer wieder die „große Welt“ in das Wohnzimmer der Blinden, denn es hat sich eingebürgert, dass er ihr von seinen Fällen erzählt. Die sind meist ziemlich unspektakulär wie die Suche nach einem, aus der Leipziger Völkerschau entlaufenen, Schwarzafrikaner bis der reiche Industrielle August Georgi ermordet wird. Nachdem alle anderen Kriminalbeamtin anderwertig beschäftigt sind, erhält der junge Kreiser den Auftrag, den Mord aufzuklären. An seiner Seite ist Staatsanwalt Möbius, der nicht nur durch seine Erfahrung sondern auch durch seinen Status eine große Hilfe für den aus eher einfachen Verhältnissen stammenden Kreiser ist.

 

Höchst interessiert lauscht Hannah den abendlichen Erzählungen von Kreiser, diskutiert mit ihm und gibt letztlich den entscheidenden Tipp.

 

Meine Meinung:

 

Ich finde die Idee, die Kriminalfälle durch die Augen der blinden Hauptperson zu erleben, grandios. Nachdem ja bekanntlich durch die Blindheit die anderen Sinne geschärft sind, kann es zu unkonventionellen Ansätzen kommen.

 

Sehr gut gefallen hat mir auch die Darstellung des gesellschaftlichen Umfelds. Gekonnt stellt Gregor Müller die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten dar: Hier die Reichen wie die Familie Georgi, in der die Frauen, um abgesichert zu sein, das notorische Fremdgehen ihrer Ehemänner bewusst in Kauf nehmen und, obwohl sie selbst todunglücklich sind, dasselbe ihren Töchtern zumuten. Doch es werden auch die Arbeiterfamilien, die kaum genug zum Leben haben dargestellt. Gut gelungen ist auch wie unterschiedlich das Leben als Dienstmädchen sein kann: Grete wird von Hannah geachtet, ja beinahe als Freundin, denn als Angestellte behandelt, während das Dienstmädchen bei den Georgis das eher übliche Schicksals erleidet: Vom Hausherrn schwanger und den anderen Familienmitglieder eher als „Möbelstück“ denn als Mensch betrachtet. Dennoch hat sie Glück im Unglück, weil sie von der Witwe finanziell unterstützt wird. Die meisten Dienstmädchen, die ungewollt schwanger wurden, hat man mit Schimpf und Schande entlassen.

 

Die Situation der Frauen wird auch durch das beginnende Aufbegehren der Frauenrechtlerinnen, die hier ihren Auftritt haben, dargestellt. Das ist sehr elegant in die Handlung eingeflochten! So mag ich die Vermittlung von Wissen - die Leser erhalten Geschichtsunterricht so unterschwellig, dass sie es gar nicht merken.

 

Das Sittenbild um 1900, in dem man fremde Völker in sogenannten „Völkerschauen“ wie im Zoo bestaunen konnte, ist gut getroffen. Das ist zwar nichts völlig Neues, denn auch Julius Caesar hat exotische Tiere und gefangene Menschen aus den eroberten Gebieten zum Gaudium (und als Manifestation der Überlegenheit) in Triumphzügen zur Schau gestellt. Die Verachtung, mit der man um 1900 allem andersartigen begegnet ist, ist haarsträubend. Doch ist es wirklich heute besser oder nur anders? Auch im Jahr 2020 werden Fremde scheel angesehen. Nun, immerhin werden sie nicht mehr in Völkerschauen präsentiert. Allerdings scheinen manche Auftritte von Brauchtumsgruppen einem ähnlichen Zweck zu dienen.

 

Die Charaktere sind fein herausgearbeitet. Wir finden aus jeder Gesellschaftsschicht entsprechende Vertreter. Nachdem das Mordopfer ein ziemlich unsympathischer Zeitgenosse war, gibt es natürlich auch jede Menge Verdächtige. Hier legt der Autor eine Menge Fährten, die sich häufig als Sackgasse entpuppen. Die Leser können ihre eigenen Überlegungen anstellen.

 

Fazit:

 

Ein gut gelungener historischer Krimi, der das historische Umfeld von 1900 sehr gut einfängt. Gerne gebe ich hier 5 Sterne und eine Leseempfehlung.