Rezension

Fesselnde Apokalypse!

Loyalitäten - Delphine De Vigan

Loyalitäten
von Delphine de Vigan

Dunke Facetten der Gesellschaft

Delphine de Vigan präsentiert eine Innenschau der Gesellschaft und ihre dunkle Doppelbödigkeit. Wie in einem Kaleidoskop setzt sich Kapitel für Kapitel die Lebenssituationen von Hélène, Cécile, Théo und Mathis zusammen. 
Im Mittelpunkt steht das traurige Leben von Théo, deinem 12jährigen Schüler, dessen Eltern sich vor geraumer Zeit getrennt haben. Er verbringt abwechselnd eine Woche bei seiner Mutter und die nächste bei seinem Vater. Die Eltern haben jeden Kontakt zueinander abgebrochen, die einzige Verbindung ist ihr Sohn, der in diesem Niemandsland seelisch völlig überfordert ist und entsetzlich leidet. Er versucht im Grunde zwei Leben zu leben. Diese Qual bringt ihn soweit, dass er sich mit hartem Alkohol regelrecht betäubt. 
Sein Schulfreund Mathis steht erst begeistert, dann immer skeptischer und verängstigt an seiner Seite und wird Zeuge, wir Théo regelrecht versucht, sich mit Alkohol zu töten. 
Cécile, die Mutter von Mathis, bemerkt schnell, dass ihr Sohn mit Alkohol zu tun hat. Ihr eigener Vater war Alkoholiker, daher die große Sensibilität. Sie verbietet ihrem Sohn den Kontakt zu Théo, welcher natürlich nicht gehorcht. 
Hélène schließlich ist die Lehrerin der beiden Jungs. Ebenfalls geprägt durch ihre Kindheit, ihr Vater misshandelte sie regelmäßig, verletzte sie durch Tritte derart, dass sie keine Kinder bekommen kann, hat Hélène besonders feine Antennen für die Signale ihrer Schüler. Sie bemerkt sofort, dass irgendetwas nicht stimmt mit Théo. Entgegen jeder Vernunft mischt sie sich ein und versucht, Théo unauffällig zu befragen. Sie fordert die Schulkrankenschwester auf, ihn zu untersuchen, forscht bei den Lehrerkollegen nach und stellt schließlich sogar Théos Mutter zur Rede. Sie übertritt damit die Grenzen ihrer Zuständigkeit und, so der Lehrercodex, ihrer Kompetenz. Glücklicherweise bleibt sie hartnäckig.... 
Aus der Perspektive dieser vier Figuren wird die Situation abwechseln beschrieben. Hélène schildert selbst in der Ich-Erzähler-Position, was sie wahrnimmt und welche Gefühle sie leiten. Die drei anderen Personen werden über den allwissenden Erzähler in das Konstrukt eingebracht. Jede der vier Figuren könnte einen Roman füllen, sie sind noch nicht auserwählt. Ich jedenfalls bin mit vielen Fragen zurückgeblieben. 
Ich empfehle "Loyalitäten", das mich von Anfang an gefesselt hat. Wie die Handlung auf die Katastrophe zusteuert, ist meisterlich aufgebaut. 
Allein das Motto wirft den Leser auf seine eigene Geschichte zurück und gibt einem, wenn man möchte, viel zu denken mit auf den Weg.