Rezension

Finstere Kindheitserlebnisse, zwar verdrängt aber dennoch präsent! Furchterregend und bedrückend! Grausam für die Seele!

Neujahr - Juli Zeh

Neujahr
von Juli Zeh

Bewertet mit 5 Sternen

Erster-Erster! Mit dem neuen Jahr fängt alles neu an, da ändert sich alles, alles wird gut! Oder!?

Henning macht mit seiner Frau Theresa und seinen kleinen Kindern Jonas (4 Jahre) und Bibbi (2 Jahre) über Weihnachten und Neujahr (2017/18) Urlaub auf Lanzarote. Endlich schafft er es, am Neujahrstag sich aufs ausgeliehene Fahrrad zu setzen, um alleine eine Radtour auf der Insel zu unternehmen. Eine Steilstrecke will er bezwingen. Er fährt los, ohne Geld und ohne Proviant. Während es so dahinstrampelt macht er sich Gedanken über sein bisheriges Leben. Erinnerungen aus der ferneren und näheren Vergangenheit tauchen wie Filmfetzen in seinen Kopf auf. Der gedankliche Blick in die Vergangenheit als auch der Blick auf das was in aktuell betrifft und umgibt wechseln einander ab. Immer wieder beteuert er sich, dass es ihm gut gehen müsste, aber dennoch spürt er, dass er mit der Rolle des Ehemanns, Familienvaters und -ernährers überfordert ist. Und seit die Jüngste drei Monate alt ist überfallen ihn plötzlich, wie aus dem Nichts kommend, immer wieder Panikattacken. Er muss doch irgendwie krank sein! Das Schlimmste aber ist, dass die Ärzte nichts finden; es ist eine namenlose Bedrohung die ihn immer wieder heimsucht - es ist einfach ein beängstigendes, lähmendes „ES“. Dies zermürbt ihn, da nun nichts da ist, was zu heilen wäre; als wäre er 'unheilbar gesund'... Hinzu kommt, dass der Spagat zwischen Beruf und Familie aufreibend ist, da er sich mit seiner Frau die für ihn klassischen Geschlechterrollen teilt, an deren Aufgaben er scheitert.

Und so verausgabt sich Henning auf dem Fahrrad sitzend und schwitzend am 01.01.2018 auf Lanzarote, mit der Aussicht, dass das Neue Jahr nur besser werden kann, nein, besser werden muss: Man hat ja so seine Vorsätze!

Im Kopf, um den Tritt-Rhythmus zu wahren, sagt er sich immer auf „Erster-Erster“. Die Steilstrecke zerrt an seinen Kräften, aber er ist extrem ehrgeizig und will keinesfalls aufgeben und sich die Blöße geben. Wenigstens hier will er der starke Mann sein, will er es sich beweisen. Er will (ein) 'Mann sein' - und keine die Familie belastende Neurosenmemme! Er will als 'Mann' geliebt und geachtet werden. Eine treibende Kraft entwächst ihm. Es ist eine Wut auf so Vieles, was sein Leben ausmacht. Wutentbrannt tritt und tritt er in die Pedale und schreit aus sich heraus was sein Leben lähmt und behindert. Die loslassende Wut ist befreiend und beschämend zugleich.

Oben auf dem Pass in Femés angekommen überkommt ihm ein Déjà-Vue. Das hier oben ist ihm bekannt! Er war als kleines Kind schonmal hier. Aber die Erinnerung, ausgelöst durch eine paar Einzelheiten, die er erblickt, ist eher ein Schreckgespenst. Ein düstere, schreckliche Urlaubserinnerung wird aus dem Verborgenen seiner Unterbewusstseins herausgerissen und läuft wie ein Film in seinem Kopf ab. Diese Erinnerung, so schrecklich sie auch ist, sie hat auch eine reinigende Kraft.

Der Roman ist fantastisch geschrieben. Eine wunderbar bildliche Sprache beherrscht das Buch, in dem alles sehr detailliert und akribisch genau beschrieben wird. Im ersten Teil sieht man den Hauptprotagonisten Henning regelrecht beim anstrengenden Strampeln auf dem Fahrrad sitzen,wie er die Landschaft an sich vorüberziehen lässt und wie er verbissen die Steigung angreift. Seine gedanklichen Abschweifungen in die Vergangenheit sind absolut nachvollziehbar. Der Wechsel zwischen dem Fallen in die Vergangenheit und dem Wiederaufwachen in der Gegenwart sind prägende und charakteristische Elemente dieses Romanteils. Es ist wie ein Kommen und Gehen, ein Träumen und Sehen!

Der zweite und überaus wichtige Teil, in dem seine Urlaubs-Kindheitserinnerung an Lanzarote erzählt wird, ist vor allem düster und schaurig. In der Wortwahl spürt man die quälende Angst, die die Kinder, Henning und seine Schwester Luna, ergreift. Absolut nachvollziehbar erzählt Juli Zeh, was die beiden kleinen Kinder – in erster Linie Henning, an diesen Sommertagen fühlen und ertragen müssen. Er muss der Große sein, obwohl er ja auch noch klein ist. Einer wahnsinnigen Verantwortungs-Belastungsprobe ist er ausgesetzt. Dass diese Pflicht auch auf ihn weiterhin lastet und ihn verfolgt, ist im Roman sehr gut erkennbar.

Das schlichte Cover zeigt einen flach-runden schwarzen Stein, auf dem in buntem Punktmuster ein Käfer, ein Skarabäus, gemalt ist. Beim Lesen des Buches wird das Rätsel des sonderlichen Einbands klar. Der Stein ist der Schlüssel zum Geheimnis der Insel, zu Hennings Vergangenheit! Er ist quasi ein Stein des Anstoßes. Durch ihn werden Erinnerungen wach.

Ich finde, dass das Cover toll gewählt ist. Der Stein sieht sehr schön aus, ein richtiger Handschmeichler, den man sofort in die Hand nehmen möchte, um die wohlige Rundheit zu fühlen.

Aber anders als dieser Stein ist die Geschichte bitter-düsteres Lesefutter.

Mir hat der kurze, kurzweilige, ergreifende Roman sehr gut gefallen, da man sich auch nach dem Lesen Gedanken macht. Er lässt einen nicht los, er hallt und wirkt nach. Beim Lesen habe ich öfters die Luft anhalten müssen, so hat mich die Spannung vereinnahmt. Das Kindheitserlebnis hat mich sehr mitgenommen und berührt. Das Thema ist gut gewählt. Es zeigt und erlaubt, dass auch Männer ihre Schwächen und Identitätsprobleme haben.

Der Roman ist nichts für schwache Nerven! Er ist kein Relax-Dich-Schmöker! Es ist ein finsteres Buch, das man nicht so schnell aus der Hand legt. Und wenn man es aus der Hand legt, dann lässt einen die Geschichte dennoch nicht los!

Kurz geschrieben: Absolut lesenswert!

5 Sterne! *****