Rezension

Flaches Jump- & Run-Drama

Cainstorm Island - Der Gejagte - Marie Golien

Cainstorm Island - Der Gejagte
von Marie Golien

Bewertet mit 2 Sternen

Emilios Familie hatte Schulden und lebte früher in Milescaleras, die Stadt der Treppen, in einer Wohnwagensiedlung. Das Angebot, für den Eyevision-Konzern als lebende Kamera Videos aufzunehmen, scheint deshalb dem Siebzehnjährigen der einzige Ausweg, um selbst zum Unterhalt beizutragen. Er unterschreibt den Vertrag mit Eyevision, erhält einen Chip direkt am Sehnerv implantiert und sendet nun auf einem eigenen Kanal täglich eine halbe Stunde live aus seinem Leben als Fassadenkletterer. Emilios Fans sind Jugendliche vom sauberen und sicheren Kontinent Asaria; seine Zuschauerzahlen bestimmen sein Einkommen. Weil Emilio täglich online ist, erhält er als einer der Wenigen auf Cainstorm Island umgekehrt Einblick in die schöne Glitzerwelt von Asaria, die er unreflektiert für Realität hält.

Die Insel zeigt sich als verdreckter, übervölkerter Kontinent, auf dem Firmen aus Asaria früher Bodenschätze abgebaut haben. Gewinne fließen in die Kassen des wohlhabenden Kontinents, Umwelt- und Gesundheitsschäden bleiben den Leuten von Cainstorm. In den hinterlassenen Kratern bauen die Bewohner; eng gedrängt stapeln sich Häuser und Treppen den Berg hinauf. Emilios Familie lebt inzwischen am Strand in einem Haus auf Stelzen - jedes Fleckchen auf Cainstorm muss ausgenutzt werden. Das Meer dient den Asariern als Müllkippe und hat die einheimischen Fischer, Muschelsucher und Perlentaucher um ihre Lebensgrundlage gebracht. Arbeit gibt es nur für Jugendliche – 16-Stunden-Schichten in Textilfabriken. Als Emilio in Notwehr den Kopf der herrschenden Schlangen-Gang tötet, sitzt er wegen seines Kamera-Implantats in der Patsche. Auf der Flucht vor den Schlangen muss er seine Familie in Sicherheit bringen und unbedingt den Chip aus seinem Kopf loswerden. Doch wenn Emilio von Eyevision täglich geortet wird, ist es kein Kunststück ihn aufzuspüren und auszuliefern.

In ihrem beinahe postapokalyptischen Szenario lässt Marie Golien einen 17-jährigen Kletterkünstler in einen ausweglosen Konflikt zwischen eine mächtige Gang und einen alles verschlingenden IT-Konzern geraten. Emilio hat sich nie dafür interessiert, warum sein Stiefvater so strikt dagegen war, dass er einen Vertrag mit Eyevision schließt. Für Serge waren der Konzern und der ganze Kontinent Asaria ein Feind, den es zu bekämpfen galt. Aus dem Knebelvertag mit Eyevision wird Emilio nie wieder herauskommen – und seine verwöhnten Fans wollen täglich Action sehen.

Die gewählte Perspektive eines gewieften Fassadenkletterers klingt zunächst vielverprechend; denn die Dächer seiner Stadt bieten Emilio einen ungewöhnlichen Blick von oben auf eine wirtschaftlich und sozial abgehängte, sowie von Malaria gebeutelte Region. Eine systematische Weltenbildung kann ich nicht erkennen; die Ursache der politischen und sozialen Verhältnisse wird am Ende aus dem Hut gezaubert, ist jedoch alles andere als utopisch. Über weite Strecken merkt man Marie Goliens Erstling an, dass sie Spieleentwicklerin ist und sich der filmischen Sichtweise verschrieben hat. Sie beschreibt anfangs kaum etwas, als würde sie im Kopf ihrer Leser fertige Bilder erwarten, die sie nur anklicken und abrufen muss. Besonders die Beschreibung von Emilios Körpergefühl bei seinen Klettertouren habe ich vermisst. Wie fühlen sich diverse Baumaterialien unter seinen Händen und Füßen an, wie reagiert sein Körper – in diesem Teil wird viel behauptet, aber wenig gezeigt. Lösung und Ausweg aus Emilios lebensgefährlicher Lage stammen leider nicht aus der Welt der Logik.

Für die Zielgruppe ab 13 Jahre finde ich den Grundkonflikt treffend gewählt, dass ein Jugendlicher spontan eine Entscheidung trifft, deren Folgen er nicht absehen kann. Zu Anfang habe ich präzisere Beschreibungen aus der Sicht des Icherzählers vermisst und konnte vermutlich deshalb meine Distanz zu den Figuren schwer überwinden. Sprachlich wirkt der Roman flach und klischeehaft, auf einer Länge von über 300 Seiten fehlt es mir besonders an der Logik der Abläufe. Texte für Jugendliche dürfen m. A. nach stilistisch und inhaltlich gern anspruchsvoller sein.