Rezension

Flucht nach vorn

Sal - Mick Kitson

Sal
von Mick Kitson

Bewertet mit 4 Sternen

Wird ein Mensch in die Enge getrieben, so hat er zwei Möglichkeiten: Ausharren, akzeptieren oder aber das Schicksal in die eigenen Hände nehmen und für ein besseres Leben kämpfen. Die dreizehnjährige Sal entscheidet sich für die zweite Option. In erster Linie nicht für sich, sondern weil ihre drei Jahre jüngere Halbschwester Peppa in großer Gefahr schwebt, wenn sie nichts unternimmt. Und so fliehen die beiden Mädchen in die schottischen Wälder – nicht spontan oder überstürzt, sondern von langer Hand geplant. Sal ist klug und recherchiert akribisch Survival-Techniken mittels YouTube und Wikipedia, liest Bücher und schafft die nötige Ausrüstung heimlich herbei. Bei allem, was sie tut, hat eines Priorität: Peppa zu beschützen und dafür zu sorgen, dass sie nicht voneinander getrennt werden – niemals.

Es ist eine Flucht nach vorn, der endgültige Schritt ins Erwachsenwerden, eine Entscheidung, die das Leben aller Beteiligten für immer verändert und es ist diese bedingungslose Geschwisterliebe, die diesen ungewöhnlichen Roman prägt, und den Leser tief berührt. Sal hadert nicht mit ihrem Schicksal, denn das liegt nicht in ihrer Natur. Sie kann die meisten Emotionen nicht nachvollziehen, (womöglich eine Form von Autismus – Kitson benennt es hier nicht genauer) eine Eigenschaft, die es ihr allerdings überhaupt erst ermöglicht, diese Herausforderungen anzunehmen und zu meistern. Sal ist ein junges Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden und sie hat Techniken entwickelt mit den wenigen tief verwurzelten Gefühlen wie Angst und Schmerz zurechtzukommen. Umso erstaunlicher ist es, dass sie sich für ihre Schwester Peppa regelrecht aufopfert. Und diese dankt es ihr, indem sie ihr blind vertraut, zu ihr aufsieht und sie so nimmt wie sie ist. Der ungezwungene und natürliche Umgang der beiden Mädchen miteinander schafft eine natürliche Dynamik, der man als Leser gern folgt. Hinzu kommt ein absolut stimmiger Schreibstil, der der jungen Erzählstimme Sals angepasst ist. Lange Sätze mit simplen Bindewörtern, hier und da Wiederholungen, zumeist von Ereignissen oder Dingen, die Sal beschäftigen oder aufwühlen. Und dann ist da aber auch diese Klarheit, die oft nur Kinder oder junge Menschen mit ihren Gedanken und Aussagen vermitteln können. Gegensätze und brutale Ehrlichkeit, die man bei der Lektüre nicht erwartet und die einen deshalb so gekonnt zu schockieren vermag.

"SAL" ist auch eine Geschichte von starken Frauen, die ihren Weg gehen, ihr Leben selbst in die Hand nehmen und dafür belohnt werden. Sal und Peppa, aber auch Ingrid, eine Ärztin, die die Flucht aus der ehemaligen DDR gewagt hat, um ihr Leben selbstbestimmt führen zu dürfen. Sogar die Mutter der Mädchen, Claire, beweist im Verlauf der Geschichte Stärke.

Der Autor selbst wurde in South Wales geboren, studierte später Englisch und arbeitete zunächst als Journalist, bevor er schließlich den Beruf wechselte und als Lehrer Englisch unterrichtete. Mit seinem Debütroman "SAL" gelang Mick Kitson prompt der Druchbruch. Zu Recht wie ich finde, denn er verarbeitet brisante Themen wie Missbrauch, Selbstbestimmung, die Fehlbarkeit eines Systems, das Unrecht eigentlich verhindern sollte, ja sogar Kriegsverbrechen gekonnt. Er schwingt zu keiner Zeit die Moralkeule, schlägt einen ruhigen Erzählton an, ohne aber Spannung einzubüßen und schafft eine wohltuende Nähe zu seiner ungewöhnlichen Protagonistin im Besonderen und zu seinen Figuren generell.

"Manche Menschen haben Seelen, die so sehr schwingen, dass sogar ein Licht von ihnen ausgeht, wenn sie noch leben."

Der einzige Kritikpunkt liegt meines Erachtens in der Verknüpfung der einzelnen Fäden. Ich werde hier nicht ins Detail gehen, da ich sonst die Handlung teilweise vorwegnehmen würde. Nur soviel: Kitson spricht Vieles an, legt Gewichtung auf bestimmte Personen und/oder deren Geschichte und verbindet die einzelnen Fäden dann nicht immer konsequent. Einiges handelt er zu schnell ab, anderes wiederum nimmt zu viel Raum ein. Alles für sich ist gut und interessant aber beim Brückenschlag fehlt es dann an Feinschliff. Positiver Nebeneffekt ist hier allerdings, dass der Leser gezwungen ist, die möglichen Verbindungen selbst zu knüpfen, was zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten an der ein oder anderen Stelle zulässt.

Fazit

Ein faszinierender und fesselnder Debütroman, der mit nüchternem und distanziertem Erzählton erstaunlich viel Gefühl transportiert, wichtige Themen zur Sprache bringt und so auch stark zum Nachdenken anregt. Lesenswert.