Rezension

Fordernd und faszinierend

Vater unser
von Angela Lehner

Bewertet mit 5 Sternen

Was ist wahr, was nicht? Immer wieder stellt man sich während des Lesens diese Frage, um irgendwann festzustellen, dass sie am Ziel vorbeiführt.

Eva Gruber wird in einem Polizeiwagen in die psychiatrische Abteilung einer Wiener Klinik eingeliefert. Sie erzählt von dem, was sie dort erlebt. Und von sich.

Die Frage, was ist wahr, was nicht, verfolgt unablässig beim Lesen. Denn vieles von dem, was wir von der jungen Frau erfahren, klingt absolut verrückt. Aber ist das nicht logisch? Schließlich ist sie ja genau das: verrückt. Oder nicht?

Angela Lehner hat eine Protagonistin zu Wort kommen lassen, die gestört, intelligent, sensibel, aggressiv und witzig ist. Die genau hinschaut, auch in ihr Inneres, auch auf ihre Vergangenheit, und das, was sie wahrnimmt, weitergibt. Die ihre Umgebung äußerst kritisch unter die Lupe nimmt. 

Wir begegnen ihrem Bruder, der nicht isst, ihrer Mutter, vor der sie sich versteckt, ihrem Vater, der die Familie verlassen hat. Wir hören uns die Dialoge in den Sitzungen mit ihrem Therapeuten Korb an. Schauen zu, wie sie Mitpatienten einschüchtert und manipuliert.

Jemand, der so unberechenbar ist, der sich Mühe gibt, Erwartungen nicht zu entsprechen, strengt an. Verunsichert. Verursacht Beklemmungen und Angstgefühle. Da gelangt man schnell an seine Grenzen. Immer drängender wird die Frage nach der Wahrheit. Bis man schließlich erkennt, dass sie existiert, allerdings in Evas subjektiver Welt. 

Was hier gelingt, ist die Darstellung einer kranken, möglicherweise traumatisierten Seele. Die muss pendeln zwischen den Ebenen, um überlebensfähig zu bleiben. Das zu verstehen, ist schwierig, wenn nicht unmöglich, es zu erleben, fordernd und faszinierend. 

So ungewöhnlich wie die Geschichte ist die Sprache, unterhaltsam und poetisch überrascht sie angesichts der Thematik.

Da gibt es Sätze, in die man sich verlieben kann, merkenswerte Ausdrücke und originelle Metaphern. 

Dem sollte man nicht auf den Leim gehen und sich verführen lassen, allzu sorglos drauflos zu lesen. Denn ohne gründliche Reflexion und emphatisches Nachspüren ist es kaum möglich, diesem Buch wirklich gerecht zu werden.