Rezension

Formal ziemlich misslungen

3096 Tage - Natascha Kampusch

3096 Tage
von Natascha Kampusch

Klappentext:
Natascha Kampusch erlitt das schrecklichste Schicksal, das einem Kind zustoßen kann: Am 2. März 1998 wurde sie im Alter von zehn Jahren auf dem Schulweg entführt. Ihr Peiniger, der Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil, hielt sie in einem Kellerverlies gefangen - 3096 Tage lang. Am 23. August 2006 gelang ihr aus eigener Kraft die Flucht. Priklopil nahm sich noch am selben Tag das Leben.

Einordnung:
Das Buch ist kein Teil einer Reihe.

Rezension:
Natascha Kampusch war achteinhalb Jahre lang entführt. Sie berichtet (bzw. lässt berichten, das Buch ist zwar in der Ich-Form, aber von / mit zwei Ghostwriterinnen geschrieben) jedoch nicht nur von dieser Zeit, sondern auch von den Jahren vor ihrer Entführung und von einigen wenigen Augenblicken nach ihrer Befreiung. Im Prinzip ist die Idee gut, so erfährt der Leser, aus welchem Leben sie gerissen wurde, allerdings fehlen in dem Buch häufig die Anmerkungen, wie alt Natascha gerade ist. Besonders zu Beginn werden die Erlebnisse nicht chronologisch erzählt, sondern so, wie sie gerade hintereinander passen. Dadurch wusste ich nie, ob sie in einer Szene drei, fünf oder zehn Jahre alt war und wie ich die entsprechenden Geschehnisse bewerten soll.

Der Großteil des Buches widmet sich jedoch der tatsächlichen Gefangenschaft, bei der ungefähr abzuschätzen ist, wie alt Natascha gerade sein müsste. Sie berichtet von ihrer 5m²-Zelle im Keller, die hinter mehreren Türen, Löchern und Wänden versteckt ist, und von den Verletzungen, die der Entführer ihr zugefügt hat, wenn er zornig war. Das ständige Klappern des Ventilators wird ebenso geschildert wie die Kontrolle des Entführers über ihr gesamtes Leben einschließlich der Tages- und Nachtzeiten, der Informationszufuhr von der Außenwelt und der Menge an Nahrung, die sie zu sich nehmen durfte.

Die Gesamtheit der Schilderungen ist so extrem, dass es klingt wie übertriebene Fiktion und es mir unmöglich macht, mich in die Situation hinein zu fühlen. Es heißt, Natascha Kampusch habe das Buch geschrieben, um die Geschehnisse zu verarbeiten, aber das hätte sie auch ohne Veröffentlichung tun können. Es ist ein nackter Tatsachenbericht, der gegenüber den Berichten in den Medien keinerlei neue Informationen enthält. So sehr ich mich auch bemüht habe, betroffen zu sein, die Geschichte fühlte sich nicht echt an und konnte mich emotional nicht erreichen.

Möglicherweise liegt das auch daran, dass es keine emotionalen Berichte der Erlebnisse gibt. Natascha Kampusch erzählt nicht von den Gefühlen, die sie während der Zeit hatte, sondern gibt bloß die Tatsachen wieder. Selbst dann, wenn sie tatsächlich selbst zu Wort kommt, weil ihre Tagebücher abgedruckt sind, ist es eine vollkommen sachliche Auflistung ihrer aktuellen Verletzungen mit den jeweiligen Ursachen. Nüchtern berichtet sie von ihren Tagesabläufen und den wenigen Veränderungen in ihrem Leben und das manchmal sogar mit wörtlichen Wiederholungen ganzer Absätze, die bereits viele Seiten zuvor abgedruckt waren.
Doch nicht nur durch die Wiederholungen und die mangelnde Emotionalität ist das Buch sehr langatmig. Es scheint sich auch im Kreis zu drehen, denn wann immer sie von anderen Personen als sich oder dem Täter berichtet, ist sie unzufrieden. Ihr Vater wird als unfähig beschrieben, ihre Mutter als lieblos, die Kindergärtnerinnen als bösartig, die Gesellschaft als verlogen, die Polizei als heuchlerisch. Die einzige Person, für die sie ein wenig Verständnis aufbringen kann, ist der Entführer.

Auch sonst dreht sich die Geschichte häufig um Nataschas Gedanken und Handlungspläne, über die ich immer wieder die Stirn runzeln musste. Obwohl sie bei der Entführung erst zehn Jahre alt ist, kann sie schon sehr genau reflektieren, welche Befehle des Täters sie verweigern muss, um ihre geistige Freiheit zu behalten und ihn gleichzeitig in seine Schranken zu weisen. Überhaupt spielt sich die meiste Auseinandersetzung der beiden in ihren Köpfen ab, da sie als junges Mädchen, das zunächst pummelig und später magersüchtig ist, dem Täter körperlich nichts entgegen zu setzen hat. Während die vermutete psychische Störung des Entführers seine Handlungen zu erklären vermag, spielt das kleine Kind bereits mit zehn Jahren ein wirklich abgekartetes Psychospiel. Laut der Schilderungen in dem Buch weiß sie ganz genau, wie sie ihre eigene Persönlichkeit behalten, dem Täter Gehorsamkeit vorspielen und ihn gleichzeitig in die von ihr gewünschte Richtung manipulieren kann. Ich bin mir bis jetzt noch nicht im Klaren darüber, ob sie das unbewusst als Überlebensstrategie angewandt hat und erst jetzt im Nachhinein darüber reflektiert oder ob sie maßlos übertreibt.

Fazit:
Ich tue mich schwer damit, ein Buch zu bewerten, in dem eine wahre Begebenheit geschildert wird, die ich nicht selbst erlebt habe. Trotzdem möchte ich sagen, dass mich einige Schilderungen skeptisch zurücklassen. Zudem beinhaltet das Buch nur Tatsachenberichte und keine emotionalen Ergänzungen, sodass ich mich nicht in die Situationen hineinversetzen konnte und die Geschichte mich auch nicht wirklich berühren konnte. Ohne darüber urteilen zu wollen, wie viel Wahrheit und wie viel Lüge in diesem Buch steckt und ob die Vermarktung der Geschichte wirklich nötig ist, kann ich „3096 Tage“ wegen des langatmigen Aufbaus, der vielen Wiederholungen und der mangelnden Emotionalität nur zwei Schreibfedern geben.