Rezension

Frauen an die Macht?

Die Gabe - Naomi Alderman

Die Gabe
von Naomi Alderman

Bewertet mit 3 Sternen

Frauen bekommen plötzlich Zugriff zu einer in ihnen lebenden Energie und sind somit gegenüber Männern körperlich nicht mehr unterlegen, denn sie können elektrische Stöße aussenden. Dieses Gedankenexperiment spinnt Alderman weiter und laut Inhaltsangabe zeigt sie uns, was mit einer Welt passiert, die von Frauen regiert wird. Nach dem Lesen bin ich da aber anderer Meinung.

Erzählt wird aus mehreren Perspektiven, hauptsächlich Mädchen/Frauen, die auf unterschiedliche Weise das Erwachen der Energie und den darauffolgenden gesellschaftlichen Umbruch miterleben. Im Laufe der Geschichte werden die Erzählstränge zusammengeführt und die Personen treffen sich. Es werden ungefähr zehn Jahre zu einem sehr großen Ereignis heruntergezählt, wobei diese Einteilung nicht so ganz aufschlussreich war, sie hat mich vielmehr verwirrt. Warum zögert sich der Umbruch so hinaus? Warum vergehen so viele Jahre Geschlechterkrieg, bis es zu einem Ergebnis kommt? Mann oder Frau? Vieles geht bei den Zeitsprüngen unter.

Ich hatte so meine Probleme mit der Identifikation mit den Charakteren. Sie waren für mich nicht so greifbar, teilweise extrem unsympathisch und oberflächlich dargestellt. Ganz wenig wird von den Personen reflektiert und keine der Erzählperspektiven konnte mich so richtig packen. Alderman verläuft sich ein bisschen in Nebensächlichkeiten und zögert viele Szenen hinaus. Ihr Schreibstil war jedoch sehr angenehm zu lesen, auch wenn mir der Aufbau und die Umsetzung der Geschichte nicht so gefallen haben. 

Mann oder Frau? Das ist hier die Frage. Anfangs hatte ich noch regelmäßig Gänsehaut, da Alderman diese erwachende Energie mit sehr viel Liebe beschreibt und man diese Energie förmlich spüren kann. Die Szenen am Anfang zeigen, wie sich unterdrückte, missbrauchte Frauen wehren, wie sie endlich die Stärke finden, eine Vergewaltigung zu beenden, einen Mord zu verhindern etc. Leider schafft sie es nach dem ersten Drittel nicht mehr, dieses zu anderen Frauen solidarische Gefühl zu vermitteln. Die grundsätzliche Idee finde ich genial, nur was die Autorin daraus gemacht hat eher weniger. Sie dreht die Machtverhältnisse einfach um. Sie zeigt kein "Was wäre, wenn...", sondern ein "Das, was in diesem Buch den Männern widerfährt, passiert den Frauen täglich". 

Unter diesem Blickwinkel betrachtet, hat sie es wirklich hervorragend geschafft, die prekären Verhältnisse der Frauen, die weniger privilegiert sind, auf interessante Weise darzustellen. Durch die Umverteilung der Macht kommen Themen wie Frauenhandel, Prostitution, Vergewaltigung und Unterdrückung zur Sprache. Später auch Frauen in Führungspositionen, Menschen, die sich keinem Geschlecht zuordnen wollen/können, verschiedene Rollenbilder, patriarchale Strukturen. Leider wurden alle Themen nur an der Oberfläche angekratzt und nicht wirklich vertieft bzw. muss man beim Lesen sehr viel selbst reflektieren, Verknüpfungen bilden und hinterfragen, damit man diese Tiefe erlangt.

Alderman hat mir kein neues Weltbild gezeigt, sondern nur ein altes mit neuen Akteuren. Männer werden zum Feindbild, es kommt zum Krieg, da sie die alte Ordnung wieder herstellen wollen, jetzt werden halt Männer unterdrückt, vergewaltigt, bevormundschaftet. Mir ist dabei schlecht geworden. 

 

Fazit

Geniale Idee, weniger gute Umsetzung. Alderman dreht die Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern um und schreibt unsere Geschichte neu. Leider konnten mich sowohl Charaktere als auch Handlung und Aufbau nicht überzeugen. Es geht um Frauen, die patriarchale Strukturen aufrechterhalten. Mir wurde kein Alternativkonzept zu meiner Welt geboten und das hat mich enttäuscht. Das Gedankenexperiment zeigt lediglich, dass Frauen schrecklich behandelt werden und wir unbedingt etwas tun müssen.