Rezension

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Der Halbbart - Charles Lewinsky

Der Halbbart
von Charles Lewinsky

Bewertet mit 5 Sternen

...ist nicht selbstverständlich für den 12jährigen Eusebius, schon gar nicht, als er doch Anfang des 14. Jahrhunderts in einem Dorf nahe dem Kloster Einsiedeln aufwächst, früh Mutter und Vater verliert und der älteste Bruder, zum Krüppel geworden, die Familie nicht zusammenhalten kann. Origenes, kurz Geni, verletzte sich am Bein bei einem verunglückten Baumeinschlag in den Klosterwäldern.

Der Halbbart, der sich vor kurzem über Schmugglerwege ins Dorf geschlichen hat, seinen wahren Namen nicht preisgibt und auch nicht darüber sprechen will, wie er zu seinem halben Gesicht kam, erkennt die Symptome des Wundbrands und rät zur Beinamputation. Die Operation gelingt, Genis Leben ist gerettet und das Vertrauen der Dorfbwohner zu diesem merkwürdigen Fremden halbwegs gewonnen.

Der dritte Bruder im Bunde, ist Poli (kurz für Polykarb). Er ist der Draufgänger in der Familie, rauft sich mit Freunden zusammen und will sich für das Unglück im Wald am Klerus rächen und das Joch der Habsburger Unterdrückung abstreifen.

Wir sind mittendrin im Marchenstreit, der schon um 1100 begann, als die Schwyzer Land rodeten, welches dem Kloster Einsiedeln vom Kaiser zugesprochen war und nun langsam seinem Höhepunkt entgegensteuert. In dieser Kulisse steht nun Sebi, zur Feldarbeit, oder gar zum Soldatenleben nicht geeignet. Von einem kurzen, aber sehr eindrücklichen Aufenthalt im Kloster, flieht er schließlich, versteckt sich und wird dann doch irgendwann wieder in die Streitigkeiten hineingezogen.

Mehr und mehr wird dem Jungen klar, was er in seinem Leben machen möchte. Er will so sein, wie das Teufels Annelie, die im Winter von Dorf zu Dorf zieht und für eine Schüssel warmes Essen den Leuten die dunklen Abende mit Geschichten füllt.

Charles Lewinsky nimmt mit seinem Roman diese Erfüllung vorweg. Der Autor lässt den Sebi diese Geschichte erzählen, lässt ihn die Welt so sehen, wie es für ihn in seinem Alter möglich ist, und aus der Sicht der Dinge, die er erlebt hat. Das Mittelalter mit all seinen Grausamkeiten wird abgemildert durch den Umstand, dass Sebi eben genau ein Kind dieser Zeit ist, aber auch nicht vor Ungemach verschont bleibt. Wofür er keine Worte findet, das umschreibt er grandios, saugt mit seinem Verstand alles in sich auf. Mit den Erzählungen des Halbbarts ergibt sich für den Leser ein komplexes Abbild des mittelalterlichen Lebens.

Was dieses Buch wirklich lesenswert macht, sind die großartigen Lebensweisheiten, eingebettet in einer wunderbaren Sprache mit Lokalkolorit, vor dem Hintergrund einer wahren Geschichte. Kein Fädchen, egal ob am Anfang, oder am Ende gesponnen, wird liegengelassen und ergibt schlussendlich ein erinnerungswürdiges Bild voller stimmiger Details.
Dem unverbesserlichen Wortspieler Lewinsky kommt man nach und nach auf die Spur und den ein, oder andere Blick ins Wikipedia-Lexikon lohnt sich allemal. Trotz seiner fast 700 Seiten liest sich dieses Buch sehr flüssig. Es gibt keine Zeitsprünge und er Sebi bleibt uns als Erzähler bis zuletzt treu. Die kurzen Kapitel lassen Zeit zum Luftholen für den nächsten Sprint in die handlungsreichen Ablauf. Erzählkunst at its best!