Rezension

Freundschaft ist gleich schnell zu schwimmen

Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte - Roy Jacobsen

Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte
von Roy Jacobsen

Bewertet mit 4 Sternen

Juri Gagarin war das Idol des Jahrzehnts. Jacobsons Icherzähler Finn wächst in Norwegen in den 60ern bei seiner allein erziehenden Mutter auf. Der Vater hat ein zweites Mal geheiratet, so dass die erste Frau zu ihrem großen Kummer keine Witwenrente erhält. Sie arbeitet als Schuhverkäuferin und macht keine großen Worte darum, dass das Geld oft hinten und vorn nicht reicht. "Das ist nichts für uns" werden Dinge genannt, die sich Mutter und Sohn nicht leisten können. Besonders innige Momente erleben beide, wenn die Mutter "uns" abends vorliest. Aufgabe des Sohnes ist es, die Mutter von Aufregungen zu verschonen und ein guter Schüler zu sein. Das Projekt Untermieter, das die Haushaltskasse stützen soll, bringt Kristian Joergensen samt seinem Fernsehapparat in die kleine Gemeinschaft.

Zur gleichen Zeit nimmt die Mutter, wieder ohne große Worte, Linda, die Tochter ihres verstorbenen Exmannes auf. Lindas Mutter muss sich einer Entziehungskur unterziehen. Aus Finns Einzelbett wird einfach ein Doppelbett, in dem nun Linda schläft. Das kleine Mädchen spricht nicht sehr viel und spielt auch nicht. Finns Freunde stellen kritische Fragen über Linda, während die Mutter schon froh ist, wenn die Kinder einen schönen Tag hatten und keine Katastrophen passiert sind. Bei der Einschulungsuntersuchung wird deutlich, dass Finns Mutter völlig ahnungslos von Lindas Behinderung war und vielleicht auch sein wollte. Finn verbringt die Sommerferien gemeinsam mit Linda und der Babysitterin Marlene auf dem Campingplatz einer kleinen Insel. Er kümmert sich in diesem so gar nicht normalen Sommer rührend um Linda, fördert sie und nimmt seine Umgebung hauptsächlich durch Linda wahr. Für einen Zehnjährigen wirkt er dabei viel zu reif und fürsorglich. Freundschaft ist gleich schnell zu schwimmen, entdeckt Finn. Als die in ihrer Entwicklung behinderte Linda schwimmen lernt, wirkt der gemeinsame Erfolg der beiden wie ein Befreiungsschlag. Die erste Schulwoche konfrontiert Finn damit, dass Lindas Probleme nicht damit gelöst sind, dass er ihr in den Ferien mit Engelsgeduld Lesen beigebracht hat. Die Einsicht, wie stark die Probleme mit Linda an seiner Mutter zehren, wird zu einem entscheidenden Reifungsschritt in Finns Entwicklung. Nachdem die Schule begonnen hat, entwickelt sich Finn wie im Zeitraffer: er interessiert sich für seinen Vater, reflektiert das Verhältnis zwischen Kristian und seiner Mutter und entdeckt mit Tanja aus seiner Klasse das andere Geschlecht.

Jacobson hat mit der Geschichte eines besonderen Sommers ein sehr treffendes Bild der 60er Jahre gezeichnet. Finns Alltag wirkt einerseits klarer und einfacher als unser Leben heute, was wir als einfach empfinden war zu seiner Zeit jedoch sehr viel komplizierter; nach außen musste der Schein gewahrt werden. Strenge Benimmregeln herrschten, gegen die Untermieter Kristian souverän verstösst. Auch Kristian wirkt sehr zurückgenommen, obwohl er durch sein väterliches "Kümmern" um Finns Skikünste eine entscheidende Rolle für dessen Heranwachsen spielt. Wichtige Dinge wurden damals nicht vor Kindern besprochen, so dass Finn erst auf Umwegen in mehreren Schritten erfährt, warum seine Mutter den Sommer in einer Klinik verbringt.

Fazit:
Die Beziehung zwischen Finn und seiner allein erziehenden Mutter, wie auch Finns erste Schritte ins Erwachsenenleben haben mich sehr nachdenklich gemacht. Gestört hat mich an Jacobsons leise erzähltem Roman, dass er seinen zehnjährigen Icherzähler eloquent und reflektiert wie einen Erwachsenen sprechen lässt. Erst als Finn im Zeitraffer herangewachsen ist, harmonieren Alter des Erzählers und sein Ton wieder miteinander.