Rezension

Für eine bessere Zukunft oder: Populistischer Umgang mit Schuld und Schicksal.

Gehen, ging, gegangen
von Jenny Erpenbeck

Bewertet mit 4 Sternen

Jenny Erpenbecks diesjähriger Roman (2015) ist ein Muss für jeden tagesaktuell interessierten Leser! Warum ich ihn trotzdem nicht zum Sieger des Deutschen Buchpreises 2015 küren würde, erfahrt ihr hier:

Jenny Erpenbeck beschäftigt sich in ihrem neuen Roman „Gehen, ging, gegangen“ mit der Flüchtlingsproblematik. Dazu hat sie Gespräche geführt, Schicksale erfragt und erzählt bekommen, die unter die Haut gehen, berühren.

Stellvertretend für die Autorin ist ein emeritierter Professor für Altphilologie aufgebrochen, zögerlich hat er seine Komfortzone verlassen und sich genähert, erst wissenschaftlich distanziert, mit Heft und Stift bewaffnet, dann immer emotionaler, bis unwillkürlich echte Nähe erreicht ist.

Dabei kommen Flüchtlinge und Professor und immerhin manche seiner Freunde, schnell mit den Mühlen und Tücken der deutschen Über-Bürokratie in Berührung, die sich auf eine Weise selbständig gemacht zu haben scheint, so dass man nicht mehr erkennen kann, wem sie eigentlich dient. Sich selbst?

Denn das gelobte Land, Deutschland, ist tatsächlich auch das gelobte Land der Bürokratie schlechthin, deren Sinnhaftigkeit angesichts von offensichtlicher Sinnlosigkeit vom einzelnen Beamten nicht mehr hinterfragt werden kann. Und wer Entscheidungen treffen könnte, z.B. der Innensenator, hat Termine ...

Einerseits finde ich „Gehen,ging, gegangen“ als Roman, der sich eng an das Reale lehnt, berührend, intelligent und wichtig, denn im Brennpunkt des heutigen Geschehens ist der Roman ein Buch, das zur Menschlichkeit drängt. Jedoch sind Leserin und Autorin sich in der Beleuchtung des großen Allgemeinen bzw. dessen populistische Einverleibung im Buch nicht grün.

Das Politisch-Philosophische Erpenbecks liegt immer wieder einmal zwischen dem Fortgang der eigentlichen Erzählung. Zum Beispiel wirft die Autorin die Frage auf, wodurch Grenzen überhaupt entstehen, wobei die Begrifflichkeiten „Grenzen, Gräben, Klüfte“ ineinander fließen.

Verlief er (der Graben) zwischen Schwarz und Weiß? Oder zwischen Arm und Reich? Oder zwischen Fremd und Feind? ...Oder zwischen denen mit den geringelten Haaren und denen mit glatten? Oder zwischen denen, die ihr Essen Fufu nannten, und denen, die Gulasch dazu sagten? .. . Oder zwischen der einen Sprache und der anderen? Wieviel Grenzen gab es überhaupt in einem einzigen Universum?“

Warum es überhaupt in einem abgegrenzten Territorium lebende Nationalitäten gibt, die ihren Lebensraum verteidigen und immer schon verteidigten, das ist eine (und vielleicht sogar die) anthropologische, historische und philosophische Problemstellung (überhaupt), deren Ursachen und Folgen die Autorin mit einigen nachdenklichen Zeilen in ihrem Roman niemals gerecht werden kann, geschweige denn einen Lösungsansatz unterbreiten könnte und mit Lamento kommt man erst recht nicht weiter, befindet die Leserin.

Und dann fällt der Autorin doch nur wieder der Umverteilungskampf ein:
„Was in der Welt wächst und fließt, reicht längst schon für alle...“,
womit sie dann politisch und gedanklich zwar wieder beieinander wären, die Autorin und die Leserin, was aber mit der momentanen Flüchtlingsproblematik höchstens peripher zu tun hat,
• sondern mit den Grundzügen jeglicher Politik
• und mit Europa, das kein Europa werden will oder kann
• und vor allem mit dem Sosein des Menschen, homo homini lupus, das der Lehre des Humanismus krass entgegen steht; auch der Kommunismus hat das Mensch-sein falsch gedeutet
• und mit der Ungerechtigkeit in der Welt, gegen die kein Kraut gewachsen ist.

Sogar den Holocaust bemüht Jenny Erpenbeck und wirft ihn wie nebenbei in die Debatte, sie setzt ihn (unzulässigerweise) in Bezug zur modernen Völkerwanderung. „Wer darf leben, wer darf sterben?“ „Die Trennlinie zwischen Geistern und Menschen war ...schon immer sehr dünn“, damit meint sie die Geister der ungeborenen Nachkommen der im Holocaust Umgekommenen und setzt sie in Bezug zu den Geistern derer, die "hier" nur flüchtig auftauchen, und dann wieder im Schattenreich des Todes verschwinden, weil wir sie nicht leben lassen? 

Doch die Frage nach Schuld und Schicksal ist im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsstrom erst in zweiter Linie eine europäische, geschweige denn eine deutsche Angelegenheit, ganz anders als beim Holocaust. Dennoch bemüht sich das Land um Antworten ... . Mir sträuben sich die Haare bei den Parallelziehungen Erpenbecks.

Der Titel selbst bezieht sich auf das Erlernen der Sprache durch die Flüchtlinge wie auch darauf, dass die Gegenwart flüchtig, die Vergangenheit verbrannt und die Zukunft vielleicht gar keine ist. Die Botschaft von Jenny Erpendeck, dass immer und vor allem Empathie gefragt und Engagement unerlässlich ist, muss gehört werden!

Andererseits ist der Roman kaum von literarischem Raffinesse.

Zum jetztigen Zeitpunkt weiß noch keiner, ob „Gehen, ging, gegangen“, der Preistträger des Deutschen Buchpreises 2015 wird, erst in einigen Tagen wird der Sieger bekannt gegeben, doch wenn ich „Gehen, ging, gegangen“ mit Lutz Seilers „Kruso“ vom vergangenen Jahr vergleiche oder auch mit Teresa Moras "Ungeheuer" vom vorvergangenen Jahr, - da liegen literarische Welten dazwischen. Lutz Seiler gab mir einige Nüsse zu knacken, Teresa Mora war düster, aber innovativ, Erpenbeck gibt kein einziges kleines Nüsslein auf. Insofern wünschte ich, ihr Roman bliebe dieses Jahr in der zweiten Reihe.

Nun bin ich gespannt, worauf die Juroren mehr Wert legen, auf literarische Einzigartigkeit oder auf Tagespolitik.

Fazit: Stilistisch rund, aber literarisch nicht raffiniert genug für den Deutschen Literaturpreis, lesenswert jedoch auf alle Fälle, denn es hilft, eigene Positionen zu überdenken und ist ein Ruf zur Menschlichkeit, den man nicht oft genug hören kann.

Kategorie:
Als „Gute Unterhaltung“ 5 Punkte// als „Gehobene Literatur“: 3 Punkte
Verlag: Knaus im Hause Random House, 2015

Kommentare

sphere kommentierte am 29. September 2015 um 11:33

Wow, sehr gute Rezension!

Naibenak kommentierte am 29. September 2015 um 12:33

Hey Wanda, wiedermal großartig geschrieben! Vielen Dank für deinen Eindruck, der auf jeden Fall neugierig gemacht hat :)

Steve Kaminski kommentierte am 02. Oktober 2015 um 21:43

Eine gut geschriebene, interessante Rezension! Ich finde auch, dass man bei der Parallelsetzung zwischen Holocaust und Gegenwart sehr vorsichtig sein sollte.

UJac kommentierte am 12. Oktober 2015 um 17:49

Ganz tolle Rezi, sehr gut geschrieben. Bin gespannt auf das Buch und wie ich es empfinde. Und natürlich auch, ob es nun den Buchpreis bekommt oder nicht. Gleich werden wir es wissen.. :-)

FIRIEL kommentierte am 22. Januar 2016 um 10:00

Wanda, da hast du es mal wieder auf den Punkt gebracht. Wozu soll ich da auch noch eine Rezi schreiben?

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