Rezension

Für mich der beste historische Roman seit langem

Im Schatten des Turms - René Anour

Im Schatten des Turms
von René Anour

Bewertet mit 5 Sternen

Die Stärken dieses Romans sind seine lebendigen Charaktere und seine authentische Sprache.

René Anours „Die Wanifen“ gehört zu den besten Fantasy-Büchern, die ich je gelesen habe. Das liegt nicht nur daran, dass das Setting (Vorzeitfantasy in den Alpen) so innovativ ist und ich zu der Zeit dringend eine Auszeit von Elfen, Zwergen und Vampiren brauchte, sondern auch daran, dass die Bücher sprachlich meinen Geschmack getroffen haben. Als ich hörte, dass ein neues Buch von ihm erscheint, habe ich mich daher trotz des Genre-Wechsels unglaublich darauf gefreut. Auch wenn ich mittlerweile nur noch wenig historische Romane lese, war ich sicher, dass auch dieses Buch mich in den technischen Details, nämlich Ausdruck und Spannungsentwicklung, überzeugen würde. Tatsächlich habe ich aber noch viel mehr bekommen als das.

Zunächst hat das Buch alles, was einem das Lesen erleichtert: es gibt ein Personenverzeichnis, in dem jeweils vermerkt wird, welche Figuren historisch sind, und ein Glossar, auf das (ganz wichtig!) zu Beginn auch hingewiesen wird. Das Cover ist richtig schön gestaltet, es hätte auch ohne Namen und Buchtitel meinen Blick auf sich gezogen. Und da Klappentexte so oft irreführende Informationen oder gar Spoiler enthalten, muss ich auch noch positiv anmerken, dass das hier nicht der Fall ist. Man stolpert nicht über Logikfehler in der Handlung. Die Geschichte spielt in Wien und es gibt im Buch ein gelungenes Gleichgewicht zwischen Lokalkolorit und Verständlichkeit. Mehr noch, nicht ein einziges Mal habe ich mich über steife Dialoge geärgert, weil die Sprache so lebendig ist. Passend dazu sind die Figuren authentisch und interessant. Ihr Handeln hat ernste, teilweise harte Konsequenzen, Protagonisten und Leser erleben gemeinsam Verluste. Am Ende ist niemand derselbe - auch der Leser nicht. Mehr Charakterentwicklung geht nicht. Von der Liebesbeziehung zwischen Helene und Alfred fühlt man sich zunächst ein wenig überrumpelt, aber insgesamt habe ich es sehr genossen, dass es kein endloses Schmachten, keine pathetischen kaum zu ertragenden Liebesschwüre gab. Und René ist es schon bei den Wanifen gelungen mit relativ wenig Worten eine sehr intensive Liebe zu skizzieren. Ein wirklich exzellenter Roman lebt zudem von gut geschriebenen Nebenfiguren, denn dass sie Nebenfiguren sind, bedeutet nicht, dass man sich mit ihnen keine Mühe geben muss. Hier schließt man im Verlauf des Buches viele davon ins Herz, selbst die, die nur ganz kurz vorkommen. Andere lernt man zu bedauern oder sie faszinieren einen zumindest. Auch die Antagonisten bekommen im Verlauf des Buches viele Facetten. Was sie tun, ist abscheulich, aber nachvollziehbar; keiner von ihnen handelt böse, einfach, weil er/sie eben böse ist.

Der titelgebende Narrenturm kommt übrigens insbesondere zu Beginn und am Ende der Geschichte vor. Zwischendurch habe ich ihn vermisst, es passt aber zum Titel des Buches, dass er seinen Schatten über alle Geschehnisse wirft, selbst wenn er nicht Handlungsort oder Gesprächsthema ist. Wann immer er, und sei es nur am Rande, vorkam, hatte ich Gänsehaut. Medizinisch liegt 1787 gar nicht sooo weit weg… Noch in der zweiten Hälfte des 20. Jh. wurden in Nervenheilanstalten Praktiken angewandt, die man sich heute kaum vorstellen kann. In 200 Jahren werden die Menschen vermutlich auf unsere Zeit zurückblicken und erleichtert sein, dass sie nicht jetzt leben.

Dieses Buch ist voller Überraschungen, dafür weitgehend frei von Klischees. Wo man doch auf Klischees stößt, werden sie auf eine Weise eingesetzt, die funktioniert und gar nicht stört. Gerade das hat mich daran besonders fasziniert. Selbst wenn man historische Romane nicht mag, kann man von der Lektüre profitieren. Ich selbst liebe Geschichte, aber historische Romane treffen oft nicht meinen Geschmack und ich greife dann lieber zu Sachbüchern. „Im Schatten des Turmes“ kann ich aber wirklich jedem empfehlen.