Rezension

Ganz unten

Menschen neben dem Leben - Ulrich Alexander Boschwitz

Menschen neben dem Leben
von Ulrich Alexander Boschwitz

Bewertet mit 3.5 Sternen

Unlängst sah ich den Stummfilm „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“. Die Idee dazu stammte von Heinrich Zille, der aber starb, bevor er die Chance hatte, die Verfilmung anzugehen. Seine Künstlerkollegen Käthe Kollwitz, Otto Nagel und Hans Baluschek haben ihn dann zu seinen Ehren umgesetzt. 1929 kam er in die Kinos. Lange bevor ich den Film sah, geisterte der Filmtitel hin und wieder durch meinen Kopf und ich fragte mich immer, welche Fahrt Mutter Krause wohl unternahm, um ihr Glück zu finden. Naiv und ohne Geschichtsbewusstsein, muss ich heute aus der Rückschau sagen. Bei der Lektüre von Ulrich Alexander Boschwitz' Roman „Menschen neben dem Leben“ schlich ich hinter Fundholz, Tönnchen und Grissmann her durch genau jenes Berlin aus „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“. Es ist ein verzweifeltes Berlin, in denen hunderttausenden Menschen die Lebensgrundlage fehlt und jegliche Perspektive auf eine besser Zukunft. Boschwitz lässt uns durch eine Handvoll ausgewählte Gestalten exemplarisch teilhaben an der Verrohung des Einzelnen, dem Abrutschen ins Kriminelle, der Skrupellosigkeit, der Prostitution aus Verzweiflung und der Flucht ins Rauschhafte. Mich trifft und bewegt die Resignation, dem Sich-abgefunden-haben mit der Situation, so wie es Boschwitz an der Figur Fundholz aufzeigt. Es erschreckt mich, wie der junge, arbeitslose Grissmann nach unten tritt, nach oben schachert und finstere Pläne schmiedet. Unwillig sich dem Elend des Ehrlichen zu ergeben, sucht und findet er Möglichkeiten auf vermeintlich einfachere Weise an Geld zu kommen. Der Spruch „Gelegenheit macht Diebe“ kommt nicht von ungefähr und Erfolg stachelt an. Zwischen den Abgehängten des brach liegenden Arbeitsmarktes irren und betteln die Opfer des Ersten Weltkrieges. Eindrucksvoll zeigt Boschwitz an zwei Figuren auf, welche unterschiedlichen Traumata der Einzelne aus dem Krieg mitbrachte.

Es sind nur wenige Tage, an denen wir die einzelnen Figuren in Berlin begleiten. Sie finden sich eines Abends alle aus unterschiedlichen Gründen in der Arbeiterkneipe zum Fröhlichen Waidmann ein und treffen gar ungünstig in einem wahren Schowdown aufeinander.

Berlin war auch vor 100 Jahren schon ein Moloch und die Weltwirtschaftskrise, die das Ende der Goldenen Zwanziger mit dem Kater des Jahrhunderts einläutete, hatte harte soziale Auswirkungen auf jeden Einzelnen. Boschwitz greift sich die Verlierer für seinen Roman heraus, bildet einen Querschnitt vom Elend und erzählt ohne moralischen Fingerzeig. Vielleicht trifft er nicht immer genau den richtigen Erzählton, aber das ist nicht der Grund, warum einem an vielen Stellen im Buch das Lesen mitunter schwer fällt. Es ist ein interessantes Stück Zeitgeschichte, entstanden mit ein wenig Abstand und doch noch nah genug dran an der Lebenswirklichkeit. Eine wichtige literarische Wiederentdeckung um den gesellschaftlichen Schwierigkeiten zwischen den zwei Weltkriegen nachzuspüren.