Rezension

Gar nicht so utopischer Ökothriller in Schnee und Eis

Das Eis - Laline Paull

Das Eis
von Laline Paull

Bewertet mit 5 Sternen

Der Schiffsverkehr um Spitzbergen herum ist exakt geregelt, im Midgard-Fjord ist nur der Verkehr zur exklusiven Midgard-Lodge erlaubt. Da die Passagiere des Luxus-Kreuzfahrtschiffes Vanir darauf beharren, sie hätten mit ihrer Reise auch für die Sichtung eines Eisbären bezahlt, fährt die Vanir verbotenerweise  in den Ffjord ein. Das hätte sie besser unterlassen; denn vor den Augen der Passagiere bricht mit  einem  in der Arktis noch nie beobachteten Getöse die Gletscherkappe ab und gibt im Eis eine Leiche frei. Ein so gewaltiges  synchrones Kalben von Gletschern hat es bis dahin noch nie gegeben. Vor vier Jahren war an dieser Stelle Tom Harding, ein renommierter Umweltaktivist, beim Einsturz einer Eishöhle verschüttet worden. Gemeinsam mit seinem alten Freund Sean gehörte Tom zum Konsortium, das die Luxus-Lodge betreibt. Ohne Toms Ruf als Aktivist zur Beseitigung des Pazifischen Plastikstrudels und als Greenpeace-Vorsitzender hätte das ehrgeizige Konsortium unter Leitung von Joe Kingsmith niemals die alte Walfangstation aus Privatbesitz kaufen können. Der harte geschäftstüchtige Kern des Konsortiums heftet sich den Umweltschutz, vertreten durch Tom, wie einen Orden an die Brust, um den Wünschen ihrer Klientel zu dienen. Da das Sommereis in der Arktis durch den Klimawandel inzwischen erheblich geringer ausfällt, wachsen die Begehrlichkeiten: eine Transpolarroute für den Schiffsverkehr scheint realistisch, der Abbau von Bodenschätzen und nicht zuletzt Radarstationen, mit denen Ost und West sich gegenseitig abhören können.

Von der Seeseite aus sieht die Lodge noch immer wie eine in die Jahre gekommen Walfangstation aus, nur dem geübten Auge zeigt sich die Luxusherberge dahinter. Vier Jahre nach dem Unglück in der Eishöhle soll nun  in Cambridge eine Anhörung zu Toms Tod klären, warum Sean überlebte und ob er Tom hätte retten können. Der gesamte Vorstand der Midgard-Lodge war damals zu einer Höhlentour unterwegs, Joe Kingsmith und zwei weitere Mitglieder kehrten bald wieder zum Eingang der Höhle zurück und nur Tom und Sean wurden von den einbrechenden Eismassen mitgerissen. Dem Gericht stellt sich nun die Frage, ob von Toms Tod jemand profitiert hätte und wie genau die Beziehung zwischen dem Betreiber-Gremium aussah. Nicht nur Sean ist noch immer sichtlich von den Ereignissen in der Höhle gezeichnet. Tom und Sean kannten sich seit ihrer Studentenzeit, als sie sich in der „Gesellschaft der verschollenen Polarforscher“  kennenlernten. Seit Sean sich als Kind die Geschichte erträumt hatte, sein unbekannter Vater wäre nach einem Schiffbruch verschollen, trieb ihn ein unbändiger Aufstiegswille voran. Er wollte beachtet werden und  reich sein. Die Erhebung in den Ritterstand wäre seiner Ansicht nach das Mindeste, das er von der britischen Gesellschaft erwarten könnte. Mit der Anhörung in Oxford sticht das Gericht mitten in ein Wespennest und  legt die Bitterkeit offen zwischen Menschen, die sich einmal nahestanden. Sean, seine erste Frau Gail, Tom und die Biologin Ruth haben einmal gemeinsam studiert. Nun stehen sich der Mentor des Midgard-Unternehmens und drei der vier Studienfreunde als Zeugen vor Gericht gegenüber; ihre Träume, privaten Schwächen und geschäftlichen Interessen werden bis ins Kleinste seziert.

Indem Laline Paull die Anhörung zum Tod von Tom Harding im Jahr 2019 stattfinden lässt, entwickelt sich ihr fesselnder Roman nach der zunächst angedeuteten Krimihandlung zum utopischen Ökothriller. Neben der unseligen Verknüpfung der handelnden Personen fand ich die Nähe ihrer Utopie zur unmittelbaren Gegenwart besonders beklemmend. Gefesselt haben mich die Charakterisierung der Figuren, die leichte Ironie der Schilderungen und die Landschaftsbeschreibungen. Eingeschobene Tagebuchaufzeichnungen von Polarforschern (nüchtern, tragikomisch und entlarvend) verdeutlichen, warum die Arktis für Generationen von Forschern Sehnsuchtsort war, welche Typen das Abenteuer anzog,  aber auch die Gier, die Expeditionen aus vielen Ländern in den hohen Norden zog. Die zahlreichen Rückblenden in die Zeit vor 30 Jahren hätten optisch deutlicher von der Handlung der Gegenwart getrennt werden können.

Insgesamt eine raffinierte Verknüpfung von Abenteuer in Schnee und Eis, Profitgier und Leidenschaft.