Rezension

Geburtsstunde einer Ikone

Frankenstein - Mary Wollstonecraft Shelley

Frankenstein
von Mary Wollstonecraft Shelley

Bewertet mit 4 Sternen

Mary Shelleys Roman 'Frankenstein' gehört ohne Frage zum festen Repertoire der Fantasy- bzw. Horrorliteratur. Und er dürfte einer der Romane sein, deren Story irgendwie jeder zu kennen glaubt, ohne ihn wirklich gelesen zu haben. Dabei lohnt die Lektüre durchaus.
Allerdings sollte man gleich – um Enttäuschungen zu vermeiden - seine durch diverse Horrorverfilmungen geprägten Bilder über Bord werfen. Denn Shelley konzentriert sich weniger auf die gruseligen Details bei der Erschaffung der Kreatur. Sie stellt vielmehr ihre Protagonisten und deren Taten in den Mittelpunkt. Und mehr noch als ihre Taten die Konsequenzen, die sich aus ihnen ergeben.

Der junge Wissenschaftler Viktor Frankenstein entschlüsselt das Geheimnis des Lebens und erschafft ein menschenähnliches Wesen. Er spielt Gott und entzieht sich - völlig überfordert - seiner daraus resultierenden Verantwortung. An seiner Geschichte des Scheiterns führt die Autorin uns vor Augen, wohin ein fehlgeleiteter wissenschaftlicher Ehrgeiz und mangelndes Verantwortungsgefühl führen. Welches Unheil der Mensch heraufbeschwört, wenn er der Natur/der Schöpfung/Gott ins Handwerk pfuscht.

Sprachlich ist Shelleys Roman tief in der Romantik verwurzelt. Immer wieder rückt die Autorin die Natur ins Zentrum ihrer Darstellungen - eine Natur, die als höhere Macht die menschlichen Ideale prägt, eine Natur, deren Teil der Mensch aber auch ohne Zweifel ist. Dabei ist diese Natur mehr als nur beeindruckende Kulisse. Sie ist die Macht, in deren Raum sich alle bewegen, deren Grenzen sich aber nicht ungestraft überschreiten lassen.

Frankensteins Geschöpf, von seinem Schöpfer im Stich gelassen, steht von Anfang an der Natur näher als jeder andere Protagonist. Mit der Unschuld eines Kindes entdeckt es die Welt um sich herum. Mit Intelligenz und Stärke versehen entwickelt es sein Menschsein ganz alleine, seine ganz natürliche Menschlichkeit, die frei ist von jedem schlechten Willen. Anrührend schildert Shelley sein tragisches Scheitern, ein Mensch unter Menschen zu werden. Es scheitert, nicht weil es selbst nicht zum Menschsein taugt (tatsächlich ist es menschlicher als alle echten Menschen, die es umgeben), sondern, weil es von den Menschen wegen seines äußeren Erscheinungsbildes abgewiesen wird.

Der Verrat an der Natur - durch Frankensteins Akt eingeleitet und durch sein verantwortungsloses Handeln fortgeführt, gipfelt schließlich in einem Verrat an der Menschlichkeit durch die Gesellschaft, die einen Unschuldigen verurteilt - obwohl er doch nur nach Liebe und Zuneigung strebt, der natürlichsten, ja menschlichsten aller menschlichen Regungen.

Mir ist die Bewertung dieses Romans sehr schwer gefallen. Es gab einiges, das meinem persönlichen Lesegeschmack stark zuwiderlief und das ich bei einem modernen Werk nicht durchgehen lassen würde.
So kann man diesen Roman auf den ersten Blick wie einen stark in die Jahre gekommenen „Schauerroman“ lesen, wie einen Text, mit dem man sich sprachlich schwer tut wegen der ungewohnten Ausdrucksweise und der teils sehr schablonenhaften Darstellung der Charaktere.
Unverschuldet aber unbestritten hat der Gruselfaktor des Romans stark gelitten. Seinen zeitgenössischen Lesern hat er sicher sehr viel leichter einen Schauer über den Rücken gejagt als er uns moderne Horror-Konsumenten bewegt.

Aber auf den zweiten Blick ist Shelleys Roman ein Buch von erschreckend zeitloser Thematik, er ist eine große Tragödie, und er markiert die Geburtsstunde einer der bekanntesten Horror-Ikonen überhaupt. Daher verdient er bei der Bewertung aus meiner Sicht einen deutlichen Klassiker-Vorsprung.
In jedem Fall lohnt es sich diesem Original einmal selbst nachzuspüren, dessen Faszination bis heute noch ungebrochen wirkt.