Rezension

Gefallen vom Himmel, aber nach dem Aufprall nicht zerbrochen.

Alles, was du für mich bist -

Alles, was du für mich bist
von Nora Welling

Bewertet mit 5 Sternen

Wenn der Himmel für einen erst einmal verloren ist, weil er einen hat fallen lassen ist es umso schöner zu sehen, in welcher Form sich ein neuer Himmel für einen auftut.

Alles, was du für mich bist von Nora Welling

Freiheit und Fliegen. Der Himmel. Verlust. Aber auch in sich gefangen sein. Den Himmel verlieren. Den Himmel wiederfinden. Sich selbst wiederfinden, und neu entdecken. Andere auf eine neue Art neu entdecken. Ängstlich sein. Nicht mehr ängstlich sein. Wieder fliegen können, aber auf eine andere Weise. Es geht um das sich nicht zu Menschen, oder einer Familie zugehörig fühlen, und dass man nicht mehr in seinen Freundeskreis gehört, weil diese einen meiden, da sich etwas geändert hat. Heute mache ich meinen Einleitungstext gar nicht so lange, weil ich in meinem Gedankenteil etwas mehr zum Buch sagen möchte.  Trotzdem gab es oben ein paar Stichpunkte, worum es in diesem Buch gehen könnte. Fangen wir also gleich an.

Welche Geschichte uns der Wind im Buch zuflüstert:

Luis, Mitte 20 und Kitesurf-Weltmeister, ist der Sonne zu nah gekommen, und wie Ikarus vom Himmel gestürzt. Der lange Weg danach, zwischen Krankenhaus, Reha und Selbsthass, führt ihn zurück nach Hause. Zur Hacienda seiner Kindheit in Andalusien, von der er als Teenager in die große weite Welt, und vor allem in den Himmel und die Freiheit aufgebrochen ist. Im Kreise der vielen Menschen, die dort leben, unter anderem seine beiden älteren Brüder und viele Angestellte, lebt auch Nuria, die Tochter der Hausdame, Luis‘ beste Freundin aus Kindheitstagen, und mittlerweile Physiotherapeutin. Die Annäherung der beiden, die sich so lange nicht gesehen haben, die Konflikte zwischen Familie, Luis‘ Genesung, und der Umgang der Menschen drum herum, sowohl mit Luis, als auch mit Nuria, das ist der Kern der Geschichte, den man selbst erkunden muss. DA möchte ich gar nicht zu viel sagen, man muss es erleben.

Cover:

Ich liebe die Symbolik des Covers zum Buch, weil ich finde, dass es tatsächlich eins zum Träumen ist. Wir sehen das Wasser, das Meer, eine Weite, und die damit verbundene Freiheit. Und somit auch all das, was Luis genommen wird. Man versteht durch das Cover ein wenig die Sehnsucht nach Weite. Und kann sich ein bisschen in Luis hineinversetzen. Aber auch in Nuria. Eigentlich dachte ich beim Blick aufs Cover, ich käme viel mit dem Element des Wassers in Berührung, dabei sind es alle Elemente der Natur, die uns im Buch begegnen. Doch am allerwichtigsten ist nicht das Meer, das Wasser, die Gezeiten, sondern der Himmel, und die Freiheit die er in sich birgt.

Fazit und ganz langes Gedankenallerlei:

Erstmal ein ganz großes WOW. Dieses Buch hat mich mitgerissen und fliegen lassen. Man ist gleichzeitig himmelhochjauchzend und ab und an zu Tode betrübt, und fühlt sich trotzdem wohl im Roman, denn das Gleichgewicht aus beiden Dingen, Himmel und Hölle, der Fall vom Himmel, zieht einen trotzdem an keiner Stelle runter, lässt einen aber definitiv mitleiden, und ab und an, bei mir eher öfter, auch mitweinen. Das Ganze ist so vielschichtig und bittersüß, dass man mitfiebert, leidet, und jeden versteht, um ihn dann wieder nicht mehr zu verstehen. Es ist ein Auf und Ab der mitfiebernden Art, und jeder geschriebene Satz lässt einen kaum mehr los und fängt einen ein, zieht den Leser ins Buch, um dort zu verweilen. Und irgendwie hat mir das Buch Frühling und Sommer ins Herz gezaubert, und das zu einer Zeit, als sich mein Frühling noch nicht richtig für sich selbst entscheiden konnte. Zumindest nicht dauerhaft und beständig. Wie schon ist es also die Beständigkeit nicht nur in den Jahreszeiten, sondern auch in Menschen zu sehen und zu fühlen. Es wurden einem auf der einen Seite Lebendigkeit gezeigt, auf der anderen auch Abgründe in uns. Die beiden Seiten, die das Leben ausmachen. Die nicht nur fröhlich sein können, sondern auch tiefschwarz. Durch das ganze Buch weht eine Stimmung von Bittersüße, weil man merkt, wie es ist, wenn das alte Leben zwangsweise einem neuen weichen, Platz machen muss. Man fühlt den Schmerz, alles verloren zu haben, was einen ausgemacht hat, und was man im Leben geliebt hat, gleichzeitig fühlt man aber auch ALLES, was ein Mensch für einen sein kann, der einen in diesem Verlust begleitet, und für einen da ist. Dabei ist das Buch einfach nur ehrlich zu einem. Es beschönigt nichts, kommt mit all seiner Wahrheit daher, und bezaubert trotzdem durch seine Wortschönheit.

Die Atmosphäre der Zusammengehörigkeit zwischen Luis und Nuria ist definitiv spürbar, und eigentlich vom ersten Moment an vorhanden, so dass man gar nicht anders kann, als den Weg der beiden zu begleiten, und dabei ein Lächeln auf dem Gesicht zu haben. Auch kommt die Nähe und das beidseitige Vertrauen, das Zueinanderstehen unheimlich gut rüber. Und, dass sich beide gegenseitig ein Zuhause sind, ein Ort zum Wohlfühlen, der keinen Ort braucht, aber auch immer jeweils derjenige, der einen vor der Außenwelt schützt, und manchmal vor sich selbst. Wenn eine Autorin es schafft, dass die Nähe, das Vertrauen und die Gefühle zwischen zwei Menschen im Buch schon fast greifbar sind, dann bin ich quasi völlig hin und weg, verloren, möchte untertauchen, aber bitte auch gerne wieder auf, um besagte Emotionen weiter und die ganze Lektüre hinweg spüren und fühlen zu können, wenn möglich auch noch nach Beendigung des Buches. Was soll ich sagen? Ich denke das wurde hier geschafft. Wurde eingefangen in der Atmosphäre, und zwischen Buchseiten für die Menschen konserviert. Poetisch alles umschmeichelnde Wortkreationen, die Szenen in sich bergen, die nicht nur zum Träumen und Nachdenken einladen, sondern einen auch noch mitten ins Herz treffen. Nicht auf die kitschige Weise, aber garantiert auf die sehnsuchtsvolle. Sehnsucht nach Liebe, Erfüllung, Freiheit, Wärme, Nähe, und seinem Spiegel-Ich, die Person, die einen ergänzt, obwohl sie einem so unähnlich und doch ähnlich in allem ist. Da ist diese Verbindung, und diese ist einfach spürfühlbar.

Die Schwächen machen die Figuren menschlicher, aber nicht schwach. Ganz im Gegenteil erscheinen sie recht stark trotz ihrer Beeinträchtigungen. Sich niemandem zugehörig fühlen, fehl am Platz zu sein, keiner traut einem was zu. Nuria wird unterschätzt in ihrer Rolle als immerwährendes kleines Mädchen, und Luis unterschätzt man in dem, was er noch fähig ist zu tun. In diesem Buch geht es um Freiheit, um das Ausbrechen aus Käfigen, in denen wir gefangen sind, in unseren Körpern, unserem Aussehen, dass wir denken, andere würden uns danach beurteilen. Aber aus unserem Körper können wir nun mal nicht raus. Es geht ebenso um das Ausbrechen aus Beurteilungen, darum, wie uns Menschen von außen sehen, und wie wir nicht gesehen werden wollen. Als Beispiel, dass alle in uns immer das kleine Mädchen sehen werden, auch wenn wir schon eine erwachsene Frau sind. Das Ausbrechen aus all diesen Dingen ist Buchthema. Luis muss unweigerlich aus seinem alten Leben ausbrechen, da ihm keine andere Wahl durch den Unfall bleibt. Nuria muss sich abspalten und entfernen davon, was es mit ihr anrichtet, wie andere sie sehen. Doch in beider Abspaltung vom alten sieht man auch ein Zueinanderkommen der beiden. Und irgendwie hat das Buch für mich die wunderschöne Message und Botschaft, dass man sich für keinen Menschen verbiegen sollte, wenn er einen nicht so akzeptiert und nimmt, wie man ist. Weil er dann ja jemand anderen will, und nicht das eigene gefühlte Selbst. Nuria ist also lieber mit gar Niemandem zusammen, als dass sie sich an jemanden schmeißt, bei dem sie gar nichts fühlt, und es keine Nähe gibt? Bravo Nuria! Mir gefällt ungemein, dass im Roman Dinge angesprochen werden, über die so in der Realität niemand spricht. Weil Menschen manchmal nicht hören möchten, dass jemand davon erzählt, wie es ist, anders als normal zu sein. Dies oftmals stigmatisierend daherkommt. Und die Menschen dann nur solche Dinge wie Mitleid empfinden. Was keinem hilft! Jemand der sich selbst schon nicht mag, für das, was er ist, der kann kein Mitleid ertragen. Ein wahrer Pluspunkt im Buch. Wenngleich es nicht nur diesen gibt, weil ich das Buch allgemein als verkörperten Pluspunkt in all seiner Wunderhaftigkeit sehe. Denn ja, das Buch ist materialisierte, und auf Papier gedruckte Emotion, ist Gefühl in Worten und Buchstaben. Und mit der Lektüre wurde ich weggetragen in eine ganz eigene Buchwelt. Vielleicht bin ich ja geflogen. Denn das Fliegen, ich wiederhole es noch mal, hat hier im Buch eine zentrale Rolle. Und da es im Buch weites gehend um den Himmel und ums fliegen geht, weil es das ist, was Luis nun verwehrt bleibt, kommt diese Sehnsucht nach Himmel, nach Freiheit und Fliegen, nochmal umso mehr durch. Ja, irgendwie lässt einen das Buch fliegen, und nimmt einen mit, in die sehnsüchtigen Gedanken der Freiheit, des Fliegens, und der wunderschönen Arten vom Himmel. Egal, wo sich dieser Himmel für uns gerade befindet. Und so, wie der Wind uns beim Himmelsurfen zum Fliegen über dem Meereshimmel mitnimmt, so hat uns das Buch in Höhen und Tiefen mitgenommen, und uns darin fliegen lassen.

Die Sprache ist so bildhaft, dass das eigene Kopfkino im Moment des Leseanfangs eingeschaltet wird. Und dazu muss man nicht mal die Augen schließen, man kann einfach mit offenen Augen träumen. Sich zu den Orten träumen. Sich in die Gefühle und Emotionen der Charaktere versenken. Die Gezeiten und Jahreszeiten mit all ihrer Gewalt und Sanftheit spüren. Und den Schmerz, aber auch das Glück der Empfindungen. Alles ist menschlich. Man erlebt mit, statt einfach nur etwas über jemanden zu lesen. Man ist dabei. Fühlt die Verzweiflung. Und hat oftmals auch den Duft der Dinge in der Nase, die angesprochen werden, und im Buch vorkommen. Dies ist tatsächlich eines der Bücher, in denen ich seit Längerem solch einen Haufen von Empfindungen gleichzeitig gefühlt habe, dass ich beinahe vergessen hätte, mir ein wenig was zu notieren, weil ich das Lesen einfach nur genießen wollte. Und das habe ich dann auch getan. Also verzeiht: Meine jetzigen Gedanken kommen von meiner Nachbetrachtung, und sind ein Nachhall meiner eigentlichen Gefühle beim Lesen. Das muss ein Buch ja auch erst einmal schaffen :). Alles ist einfach nur wundervoll atmosphärisch geschrieben. Ja, das Buch spielt richtiggehend mit den Atmosphären. Der Stil ist leicht, zart, fast poetisch, und ab und an trotzdem durchwirkt durch eine Schwere und Fülle. Beides im Zusammenspiel ergibt eine Mischung, die einen glücklich, betrübt, traurig aber auch voll Hoffnung zurücklässt.

Und ich kann es nicht anders sagen. Die Geschichte lässt einen mit einem Glücksgefühl zurück, und das ob des doch eher unglücklichen Themas. Wobei: Was ist schon Unglück? Wie kann man das definieren? Und liegt in einem Unglück vielleicht manchmal der Schlüssel zum Glück? Alte Tür zu, neue Tür auf? Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich die nächste. Auf alle Fälle wurde ich nach der Lektüre zurückgelassen mit einem hoffnungsvollen Gefühl, auch wenn die Geschichte nicht gleichbleibend auf ein Happy End zufliegt. Wir haben Rückschläge in den Stimmungen, Stimmungsschwankungen, was das Ganze noch realistischer macht. Es gibt durchaus lustige Stellen, aber auch tiefgehend depressive, die zum Nachdenken anregen. Man wird durch die Worte bittersüß gefangen genommen, schleicht und wankt durch die Leichtigkeit des Seins, verwoben mit einem Dasein, dem die Leichtigkeit beraubt wurde. Oder vielleicht auch nicht? Unter all dieser Schale aus gebrochenen Träumen und verbitterten Gedanken erkennt man, wenn man tiefer gräbt, in vielen Situationen so etwas wie Humor. Schwarzer Humor, Galgenhumor, aber auch Humor, der uns zum Schmunzeln bringt, und genau an den richtigen Stellen für eine Auflockerung des Themas sorgt, das uns sonst in eine Gedankendauerschleife bringen würde. Ein Buch über das Leben, den Verlust des alten, und den Gewinn eines neuen Lebens, wie auch immer Leben aussehen mag, und wie wir es definieren. Leben das nicht mehr lebenswert ist, und plötzlich doch wieder. Leben mit, und ohne eine bestimmte Person. Leben, das nur lebenswert mit DIESER Person ist. Leben auf einer Hacienda, die Flucht von dieser, und das Zurückkehren. Das Leben in seinem Beginn als Kind. Und wie alles miteinander alles dem Leben zugehörig zusammenhängt. Ist es doch die Freiheit, dieses Gefühl absoluter Losgelöstheit, das Luis letztendlich durch seinen Sturz das nimmt, was er beim Kitesurfen empfindet. Die Lebendigkeit der Sinne, und damit das Leben auf seine normale Weise, und mit all den Dingen, die ein Leben glücklich machen. Ein Zuhause. Doch irgendwann erkennt er, dass dieses Glück auch in einer Person liegen kann, ebenso wie ein Zuhause. Und dadurch das Leben lebenswert ist, trotz der Tragik darin.

Man fühlt wie sich ganz langsam etwas aufbaut, sich durch die Zerbrechlichkeit zweier Personen wühlt, die sich einander annähern, obwohl sie sich als Kind schon so nah waren, und dann das Leben und der Lauf der Zeit und eigene Träume dazwischenkamen. Wir haben zwei Personen die angebrochen, aber nicht völlig zerbrochen oder gebrochen sind, und die sich zusammen mehr wert sind, als anderen, dies aber dafür glaubhaft und überzeugend. Nuria will anerkannt und respektiert werden. Luis will nicht als Krüppel gesehen werden, ist aber so verbittert, dass er sich selbst so sieht. Ähnlich ist es mit Nuria. Verbitterung auf beiden Seiten aus verschiedenen Gründen. Und doch ähneln sich beide, und geben sich gegenseitig das, was andere ihnen nicht geben können, und genau das macht es so glaubhaft und schweißt beide zusammen. Da ist ein Paar, so ganz anders, mit eigenen Problemen, aber zusammen einfach beneidenswert, zueinanderstehend, voller Zusammenhalt und einfach wunderbar. Die Gefühle kommen ganz leicht und zart daher, fast wie bei einem Windhauch über dem Meer, der einen fliegen lässt. Und trotzdem empfindet man sie gleichzeitig der Tiefe wegen auch wie bei einem Sturm, der den Flug durcheinanderbringt, und den Fliegenden straucheln lässt. Das Buch bewegt, und lässt gleichzeitig still innehalten, ob seiner wunderschönen Sprache, die irgendwie verzaubert. Wir dürfen als Leser teilhaben an einer puren Ehrlichkeit und Intimität, die so rein und schön, und auf gar keinen Fall peinlich ist. Und tatsächlich verspürt man nach der Lektüre eine gewisse Dankbarkeit, der Geschichte und ihren Figuren gelauscht zu haben, und möchte Dankeschön sagen, dass sie uns ihre Geschichte erzählt haben. Übrigens: Aufgrund zweier Perspektiven und deren Wechsel kommen uns die Emotionen sehr nah, und man ist immer in den jeweiligen Gedanken von Luis oder Nuria.

Die Beschreibungen der Szenerien, sind atmosphärisch schön, bildhaft gezeichnet, so dass man sich die ganze Zeit in der Geschichte wähnt, und sich so fühlt, als ob man direkt bei allen Ereignissen dabei wäre. Die Beschreibungen der Orte, der Landschaften, oder einfach nur des Windes, der im Buch weht - Geschrieben mit lebendig werdender Sprache. Selbst die Nebenfiguren leben auf. Diese wird man übrigens aus Teil 1 kennen, denn dies ist Teil 2 einer Trilogie, in der jeder Teil auch für sich gelesen werden kann. Denn wir haben 3 Brüder auf der Hacienda, und somit weiß nun jeder, dass es noch einen Teil geben wird :)

Und am Ende möchte man dann einfach nur sagen: „Ach Luis, du brauchst die Freiheit und das Glück des Himmels doch gar nicht, wenn Nuria dir das Glück und den Himmel auf die Erde bringt, auf der du so unglücklich gelandet bist.“ Die endlose Weite des Himmels, seine scheinbare Unendlichkeit und Freiheit gegen das Gefangensein im eigenen Körper, wenn dieser nicht mehr tut, was man von ihm will. Aber auch die Hoffnung in Form eines neuen menschlichen Himmels.

Und weil der Himmel eben nicht nur dort oben sein kann, sondern auch unten bei uns auf der Erde, auf der wir manchmal hart landen, konnte es gar kein anderes Rezensionslied geben, als dieses, weil es einfach so perfekt passt:

„And we're spinning with the stars above. And you lift me up in a wave of love.

Ooh, baby, do you know what that's worth? Ooh, Heaven is a place on Earth.
They say in Heaven, love comes first. We'll make Heaven a place on Earth.
Ooh, Heaven is a place on Earth.“