Rezension

Gefühlsstarke Kinder, die den Rahmen sprengen ...

So viel Freude, so viel Wut - Nora Imlau

So viel Freude, so viel Wut
von Nora Imlau

Bewertet mit 5 Sternen

Wenn sich ein Kind wütend mitten in die größte Pfütze wirft, um prompt vom nächsten Wutanfall geschüttelt zu werden, weil nun die Lieblingshose schmutzig ist, wird die betroffene Mutter in ihrem Rücken vermutlich Außenstehende von Dickkopf, Tyrann oder Trotzalter murmeln hören. Wenn ein Kind allerdings im Grundschulalter seine Gefühlsstürme noch nicht ohne Rückhalt Erwachsener bewältigen kann und unter diesem Zustand selbst leidet, haben die Beteiligten ein Problem. Schätzungsweise ist davon jedes 7. bis 10. Kind betroffen, und es gab diese Kinder bereits lange vor der Einführung von Fernsehen und elektronischen Medien. Das Tyrannen-Geraune ist bei sehr fordernden, dabei höchst sensiblen und von ihren Emotionen überwältigten Kindern alles andere als hilfreich. Das „spirited child“ tauchte in der pädagogischen Literatur der USA zu Beginn der 90er Jahre auf. Mancher mag inzwischen den Eindruck haben, dass es sich schon damals um eine Mode-Diagnose handelte, die schlicht als Ausrede für schlechtes Benehmen herhalten musste. Auch in Deutschland berichten Kita-Erzieher und Lehrer, dass Kinder heute häufiger auf banale Alltagsereignisse mit heftigen Gefühlsausbrüchen reagieren und damit Kita-Gruppen und Schulklassen förmlich sprengen können.

Nora Imlau verdeutlicht zunächst, dass unsere Sprache die Brille entlarvt, durch die wir Kinder betrachten, die diese wenig wertschätzenden Untertöne mit feinen Antennen wahrnehmen und in ihr Selbstbild integrieren. Gefühlsstarke Kinder sind schon als Baby fordernd, schreien häufig, brauchen wenig Schlaf, tolerieren keine Abweichung von gewohnter Routine und möchten auf keinen Fall allein gelassen werden. Wer das noch nicht selbst erlebt hat, wird es nicht für möglich halten. Wenn jede Kleinigkeit zum Drama führt, entwickeln gerade Mütter Schuldgefühle, dass sie ihrem Kind nicht gerecht werden. Eltern sind nicht schuldig (das ist inzwischen empirisch belegt), aber verantwortlich dafür, dass sie ihr Kind wie ein Leuchtfeuer leiten und es unterstützen, mit seinen Emotionen umzugehen, so Imlau.

Die Persönlichkeit gefühlsstarker Kinder wirkt zunächst widersprüchlich, wenn die Kinder zwar motorisch sehr weit entwickelt und abenteuerlustig wirken, zugleich aber von kleinsten Veränderungen im Alltag völlig aus der Bahn geworfen werden. Die Liste der Zumutungen reicht von der Lieblingshose aus der Pfütze, über ein kratziges Shirt, Essen, das auf dem Teller „durcheinander“ wirkt, das Standby-Lämpchen eines Elektrogerätes bis zur gesamten Bandbreite unerwarteter Emotionen. Nora Imlau mahnt zu einer nicht wertenden, wertschätzenden Sprache, dazu, seinem Kind unvoreingenommen zuzuhören und ihm einen Wortschatz zu vermitteln, mit dem es hoffentlich bald seine Emotionen ausdrücken kann. „Gefühle haben einen Namen“ – war für mich als Nicht-Betroffene der wichtigste Rat; denn spätestens als Erstklässler müssen alle Kinder Emotionen ausdrücken lernen.

Das Buch enthält eine Fülle treffender Beobachtungen, die wie Zahnräder ineinander greifen. Hohe Sensibilität, Wutanfälle, Schlagen-Beißen-Schubsen, fehlender Wortschatz für Emotionen, geringes Schlafbedürfnis, darin drückt sich eine Persönlichkeit aus, die sich weder durch „stille Treppen“ noch durch Belohnungssticker ab-dressieren lässt. Wichtige Themen sind u. a. das Löwenmutter-Syndrom, Eingewöhnung in die Kita, Einschulung, alternative Betreuung im Vorschulalter, wenn Kindergarten /Kita für ein Kind auf die Dauer nicht akzeptabel sind – und schließlich der Schutz der Geschwister, deren normale Entwicklung eingeschränkt wird, weil ein Familienmitglied „immer alles sprengt“. Dass Gleichaltrige sich vor einem gefühlsstarken Kind fürchten können – und deshalb nicht mehr in den Kindergarten gehen wollen – geht im Buch leider unter, muss den betroffenen Kindern dennoch vermittelt werden.

Das Thema Kita und Betreuung, wie es im Buch geschildert wird, scheint mir wenig mit der Situation betroffener Eltern in Großstädten zu tun zu haben, die ihre Kinder oft bereits vor der Geburt für einen Betreuungsplatz anmelden müssen. Eine Kita auszuwählen, die sich einem „besonderen“ Kind gewachsen fühlt, scheint mir Wunschdenken der Autorin, geht es doch in der Realität oft darum, überhaupt irgendeinen Kitaplatz in irgendeinem Stadtviertel zu finden. Ein gefühlsstarkes Kind im Familien-Clan oder im Team mit Kinderfrau, au pair oder den Großeltern zu betreuen, halte ich für ähnlich unrealistisch. Hat die Autorin mit ihrer Liste der Killerphrasen weiter vorn doch gezeigt, dass der Clan selbst das Problem sein kann und nicht die Lösung des Problems.

Nora Imlaus Buchs schildert die Persönlichkeit gefühlsstarker Kinder anschaulich und ausführlich, zeigt, wie unsere eigene Persönlichkeit Erziehungsstil und Einschätzung unserer Kinder färbt, und bietet Lösungswege an, die mir auf dem Gebiet der Kinderbetreuung im Vorschulalter jedoch allzu optimistisch erscheinen.