Rezension

Geglückt, wenn auch mit einigen Längen

Das außergewöhnliche Leben eines Dienstmädchens namens PETITE, besser bekannt als Madame Tussaud - Edward Carey

Das außergewöhnliche Leben eines Dienstmädchens namens PETITE, besser bekannt als Madame Tussaud
von Edward Carey

Bewertet mit 4 Sternen

"Es gibt einen Zustand zwischen Leben und Tod, er heißt: Wachsfigur."  S. 488

Ganze fünfzehn Jahre hat Edward Carey für die fiktive Biographie Madame Tussauds benötigt. Er selbst gibt zu, dass nicht sehr viel überliefert wurde und doch kann man sich vorstellen, dass ihr Leben so oder zumindest so ähnlich verlaufen sein könnte.
Das liegt wohl überwiegend an der sehr detaillierten Schilderung der Ereignisse und gewisser Zeitspannen. Für mich persönlich war der mittlere Teil etwas zu ausführlich, sodass sich einige Ermüdungserscheinungen abgezeichnet haben und man das Gefühl bekommt, dass sich besonders dieser Teil sehr zieht. Insgesamt jedoch waren die restlichen Kapitel recht schnell erzählt und es fehlte ihnen nicht an neuen Informationen. Wer aber zum Beispiel gerne etwas länger in Büchern und deren Welten verweilt, dem wird der mittlere Teil vielleicht auch gar nicht so lang vorkommen. Erst zum Schluss merkt man als Leser tatsächlich, dass der mittlere Teil aus taktischen Gründen so ausschweifend dargelegt wurde, denn er berichtet von dem Aufenthalt Maries (Madame Taussuds) im Königshaus. Da ihre Geschichte ebenfalls mit den Aufständen in Paris verwoben wird, soll man natürlich eine "Beziehung" zu den Adeligen aufbauen können, sodass möglichst alle Seiten aufgezeigt werden und anschließend eingeordnet werden können.
Gestärkt wird diese Erzählung Madame Tussauds ab 1761 durch die Ausdrucksweise. Er klingt etwas an die Zeit angepasst, wird aber nicht bis an seine Grenzen gebracht, sodass es nicht übertrieben wirkt. Das schien mir eine gute Lösung zu sein, um das Gefühl des "Alten" zu bewahren, aber nicht zu hochgestochen für einen heutigen Roman zu klingen.

"Frankreichs Kopf wächst und hungert den Leib aus. Wie lange, glaubst du, kann es so leben? Wie lange, glaubst du, kann unser Land überleben? Pssst, nun fort von hier." S. 107

Man sollte durchaus wissen, dass das Buch, so freundlich es von außen wirken mag, inhaltlich oftmals sehr grob, brutal und blutig ist. Die Geschichte thematisiert Selbstmorde, kaltblütige Morde, Körperteile, die nicht immer nur aus Wachs bestehen und (getrennte) Köpfe, die aufgrund der Geschichte von Paris zur damaligen Zeit, ebenfalls nicht immer nur aus Wachs bestehen. Da einige Geschehnisse auch in die schwarzweiß Illustrationen aufgenommen wurden, sollte man vorher überlegen, ob man sich dem Inhalt stellen möchte.
Grundsätzlich fand ich das Buch nicht zu "schrecklich", aber doch oftmals sehr erschreckend und es kommen durchaus viele Stellen, in denen man einen gewissen Schauder spürt.

Dennoch hat die Geschichte mich letztlich durchaus überzeugen können. Marie erzählt die Geschichte als Ich-Erzählerin, was die Erlebnisse gefühlsmäßig deutlich verstärkt. Ihre Entschlossenheit, Tapferkeit und manchmal auch ihre Naivität lassen den Leser / die Leserin der Biographie aber immer mit ihr zusammen kämpfen.
Mir gefiel zudem, dass der Roman die Seiten aller Figuren ein wenig durchleuchtet. Vor allem zum Ende hin muss man sich fragen welche Opfer und Siege eine jede Revolution mit sich bringt. Hier verschwimmen auch oftmals die Grenzen zwischen Gut und Böse, Schwarz und Weiß, da auch Marie und ihre Familie Dinge in Auftrag nehmen muss, die grausam sind.
Durchaus spielen die Wachsfiguren natürlich eine sehr wichtige Rolle und es werden auch besonders zu Beginn Details zur Herstellung beschrieben wie auch Illustrationen angeführt, aber dies verschmilzt sehr schön mit den Geschehnissen der Gesellschaft. Man hat nicht das Gefühl, dass das ganze Buch nur über diese Figuren berichtet und die Menschen außerhalb, im "wahren, echten Leben" ausblendet. Ganz im Gegenteil.
Einige Dinge, die in dem Buch genannt werden, die mich etwas stutzen ließen, habe ich versucht nachzuschauen, aber einiges konnte ich nirgends gänzlich als belegt finden. Daher kann ich nicht genau sagen, ob alles historisch akkurat dargelegt ist, dennoch schätze ich, dass bei fünfzehn Jahren, die Carey hierein investiert hat, er (hoffentlich) darauf geachtet hat.

"Trotzdem büßte mein Meister nie den Glauben an seine Arbeit ein. 'Es sind Spiegel, Marie.', sagte er. 'Wir fertigen bloß Spiegel an. Und das haben wir schon immer getan. Sie mögen sich selbst nicht anschauen. Sie schämen sich für das, was sie im Spiegel sehen.'"  S. 463

 

INSGESAMT: Wachsfiguren, Köpfe, Morde, eine Französische Revolution und inmitten dessen: Marie Grosholt oder auch Madame Tussauds. Eine Frau auf der Suche nach Selbstbestimmung und dem eigenen Glück. Obwohl mir der Mittelteil etwas zu langatmig erschien, konnte mich die fiktive Biographie dennoch zum Schluss überzeugen. Nicht immer ist sie leicht zu verdauen, da es oftmals sehr brutal zugeht und es makabere (wenn auch leider realistische) Abbildungen gewisser Geschehnisse gibt, aber diese Zeit der Aufstände war sicherlich alles andere als leichte Kost. Die Stimmung kann durchaus bedrückend sein, lässt aber immer das Gefühl von Hoffnung zu, spielt zudem auch mehrfach mit einer bitterbösen Ironie und Sarkasmus.