Rezension

Geheimnisvolle Familienbande

Die Holunderschwestern
von Teresa Simon

Bewertet mit 5 Sternen

~~2015. Katharina betreibt mit ihrer Freundin Isi in München eine Restaurationswerkstatt und liebt ihre Arbeit mit Holz sehr. Eines Tages steht ein attraktiver Engländer namens Alex Bluebird vor ihr, der extra aus London angereist ist, um ihr die alten Tagebücher ihrer Urgroßmutter Fanny überreichen zu können, die sich seit Jahrzehnten im Besitz seiner Familie befinden. Kaum hat Katharina sich in die Tagebücher eingelesen, ist sie von der dort enthaltenen Geschichte seltsam berührt und fasziniert. Sie versucht, innerhalb ihrer eigenen Familie Antworten auf ihre Fragen zu erhalten, doch wird sie von ihrer Mutter ebenso wie von ihrer Tante immer wieder abgefertigt. So bleibt ihr nur ihre eigene Recherche. Wird ihr der junge Engländer Alex behilflich sein können?
1918. Die junge Fanny flüchtet vom ländlichen Weiden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in die Großstadt München, wo ihr älterer Bruder Georg ihr eine Anstellung in einer Weißnäherwerkstatt besorgt hat. Sie will sich endlich von ihrer Familie und vor allem von ihrer sehr anhänglichen Zwillingsschwester Fritzi abnabeln, um auf eigenen Füßen zu stehen, aber anstatt zu nähen, möchte Fanny lieber kochen. Da kommt ihr der Zufall zu Hilfe und sie erhält die Möglichkeit, in einem Haushalt die Küche zu übernehmen und gleichzeitig auch in einer Künstlerwohnung für das leibliche Wohl der Gäste zu sorgen. Durch ihre Arbeit trifft sie viele interessante Menschen, von denen viele enge Freunde werden. Aber sie hat die Rechnung ohne ihre Zwillingsschwester gemacht, die eines Tages einfach vor ihrer Tür steht, um zu bleiben. Was werden die beiden Schwestern alles erleben?
Teresa Simon hat mit ihrem Buch „Die Holunderschwestern“ einen sehr unterhaltsamen, fesselnden und gleichzeitig spannenden Familienroman vorgelegt, der den historischen Handelsstrang mit dem gegenwärtigen auf wunderbare Weise miteinander verstrickt. Der Schreibstil ist herrlich flüssig, macht regelrecht süchtig, denn man wird schon beim Prolog in die Geschichte hineingesaugt und kann sich von den Seiten nicht lösen. Der Leser bekommt bei der Autorin den Platz des unsichtbaren Statisten, der sowohl an der Seite von Katharina als auch von Fanny jeden Gedanken und jede Gefühlsregung der Frauen miterlebt und oftmals laut eingreifen möchte, um zu warnen oder zu unterstützen, um zu trösten oder einen Schubs zu geben. Der historische Hintergrund wurde von der Autorin sehr gut recherchiert und mit der Handlung verflochten, wobei erwähnt werden muss, dass viele Details autobiografische Züge haben, die die Autorin aus ihrem engen Umfeld in den Roman hineingetragen hat. Sehr gut werden auch die Lebensumstände sowie die politischen Ereignisse und die Künstlerszene der damaligen Zeit dargestellt, so dass der Leser ebenfalls animiert wird, weiter zu recherchieren und sich mehr Informationen anzulesen. Der Spannungsbogen wird schon im Prolog aufgebaut, animiert er doch den Leser zum ständigen Rätseln, was es mit diesen Briefzeilen wohl auf sich hat, und wird bis zum Ende immer mehr gesteigert. Die Handlung selbst wird in zwei Ebenen erzählt, der eine behandelt Katharina in der Gegenwart und der andere, der sich durch die kursive Schrift unterscheidet, schildert die Erlebnisse von Fanny in der Vergangenheit.
Die Charaktere sind liebevoll ausgestaltet worden, sie haben Ecken und Kanten, wirken wie Menschen von nebenan und wirken gerade deshalb so lebendig und authentisch, als würde man sie seit Ewigkeiten kennen. Deshalb fühlt man sich beim Lesen des Buches auch so wohl, denn sowohl Katharina als auch Fanny sind so sympathisch und liebenswert, dass sie wie Familienmitglieder wirken. Katharina ist eine bodenständige junge Frau, die ihre künstlerische Arbeit sehr liebt. Sie leidet unter der strengen und kühlen Mutter, der sie es nie recht machen kann, doch ihr Vater kompensiert einen Teil, denn er ist ein liebvoller Mann, der ihr jedes Verständnis entgegen bringt. In Isi hat Katharina einen Gegenpol zur Freundin. Während Katharina oftmals Selbstzweifel hegt und sich nach der großen Liebe und einer eigenen Familie sehnt, ist Isi quirlig und ein Hans-Dampf in allen Gassen. Aber gerade dieser Gegensatz ist gut für ihre Freundschaft, sie ergänzen sich im positiven Sinne. Fanny ist Katharina sehr ähnlich, sie steht ebenso mit beiden Beinen auf dem Boden, ihre Wünsche sind die einer normalen Frau. Dabei ist Fanny eine sehr hilfsbereite und sympathische Frau, die ihren Platz im Leben sucht. Sie hat keine Vorurteile und durch ihre freundliche Art gewinnt sie schnell die Herzen der Menschen, die ihr begegnen. Ihre Zwillingsschwester Fritzi ist das komplette Gegenteil, sie wirkt künstlich, aufgesetzt und immer auf ihren Vorteil bedacht. Neid und Missgunst machen sie in den Augen der Leser schnell unsympathisch, auch ihre fordernde und vereinnahmende Art lässt das Gefühl von Platzangst aufkommen sowie unter ständiger Beobachtung zu stehen. Fritzi will alles für sich und das sofort, dabei ist ihr völlig gleich, wem sie dadurch Schaden zufügt. Auch die Nebenrollen, die in diesem Buch hauptsächlich von den Männern besetzt sind, geben der Haupthandlung durch ihre Geschichten und Episoden einen wunderbaren Rahmen.
Ebenfalls erwähnt werden muss die liebevolle Ausgestaltung des Buches, das schon durch ein wunderschönes Cover besticht, aber auch das Nachwort der Autorin mit begleitenden Erklärungen und die vielen leckeren Rezepte, die es sich auszuprobieren lohnt. Mehr als einmal hat man während der Lektüre Heißhungerattacken und würde sich am liebsten mit den Protagonisten an einen Tisch setzen.
Mit „Die Holunderschwestern“ hat Teresa Simon einen sehr fesselnden Familienroman vorgelegt, der sowohl Geheimnisse, Liebe, Verrat, geschichtlichen Hintergrund und besondere Küchenhighlights in sich vereint. Alle, die sich gern von Büchern verzaubern lassen wollen oder sich ein Kopfkino der besonderen Art wünschen, sollten an diesem Buch nicht vorbeigehen. Absolutes Leseerlebnis und Highlight des Sommers 2016! Unbedingt lesen!!!