Rezension

Geht unter die Haut

Zwei Leben - Agnes Christofferson

Zwei Leben
von Agnes Christofferson

Bewertet mit 5 Sternen

„...Anna wurde plötzlich traurig und sah noch bedauerlicher aus. Wie ein kleiner abgemagerter Welpe, der seine Hundemama verloren hat...“

 

Emilie Lauenstein ist trotz ihrer 86 Jahre eine resolute und extravagante alte Dame. Sie macht deutlich, was sie will, zum Beispiel gegenüber ihrem Chauffeur Kaya. Bei einer Einkaufstour sieht sie ein etwa zwölfjähriges Mädchen in einem altmodischen Kleid. An irgendjemand erinnert sie das Kind.

Die Autorin hat eine spannende Geschichte geschrieben, die unter sie Haut geht. Sie spielt abwechselnd in der Gegenart und in der Vergangenheit. Dabei wird die Vergangenheit von Emilie erzählt.

Emilie war 10 Jahre, als ihr Vater, ein SS-Mann, als Sicherheitsbeamter in ein KZ berufen wurde. Die Familie bekam ein großes Haus mit Garten unweit des Lagers. Außerdem erhielten sie ein jüdisches Hausmädchen namens Anna. Emilies Mutter war wenig lebenstüchtig. Sie blabberte die politische Meinung ihres Mannes nach, überließ die Hausarbeit Anna, hatte wenig Zeit für Emilie und griff häufig zu Alkohol. Diese Situation begünstigte, dass Emilie sich Anna anschloss. Sie akzeptierte Annas Mahnung, dass dies ein Geheimnis bleiben müsse, denn Anna war es verboten, mit Emilie zu sprechen..

Der Schriftstil ist sehr unterschiedlich. Teile der Gegenwart werden sachlich erzählt. Doch häufig blitzt Emilies trockener Sarkasmus auf. Damit verschleiert sie auch die Bitterkeit, die die Vergangenheit in ihr wach ruft. Die Erzählungen der Vergangenheit spiegeln die Unerfahrenheit eines 10jährigen Mädchens wider. Hier wird wenig Gefühl zugelassen. Gerade aber das macht das Geschehen besonders eindrucksvoll. Woher soll Emilie wissen, dass der Schnee, der bei ihre Ankunft vom Himmel regnet, eigentlich Asche ist? Im Sprachgebrauch der Eltern ist vom Judendorf die Rede, eine beschönigende Beschreibung. Anna ist in den Gesprächen mit Emilie sehr vorsichtig. Sie weiß, wie schnell das Leben für sie zu Ende gehen kann. Das Eingangszitat fällt, als Emilie Anna nach ihrer Familie fragt und zeigt, wie Emilie Anna sah.

Emilie steckt Anna heimlich Essen zu, denn Emilies Eltern lassen das jüdische Mädchen hungern. Sie bekommt nicht mehr, als ihr auch im Lager zustehen würde. Doch Emilie ist aufmerksam, und ihr Vater rücksichtslos. Deshalb kommt Emilie eines Tages die folgende Einsicht:

„...In diesem Augenblick hatte Emilie eine plötzliche Erkenntnis: Sie spielten ein sehr, sehr gefährliches Spiel...“

In der Gegenwart zeigt sich, dass Emilie trotz einer gewissen Ruppigkeit ein mitfühlendes Herz für ihre Mitmenschen hat und auf ihre Probleme eingeht.

Es sind die vielen Kleinigkeiten in der Geschichte, die berühren und bewegen. Das betrifft übrigens nicht nur die Kriegszeit. Auch die Gegenwart wird kritisch beleuchtet. Und es sind manche Gespräche, die in die Tiefe gehen und doch keine Antwort geben können. Ich denke dabei besonders an die Szene, als die neuen Nachbarn sich bei Emilie vorstellen und es sich im Dialog herausstellt, das sie Christen sind. Emilie berichtet kurz, wer ihr Vater war und stellt dann die Frage: Liebt Gott auch meinen Vater? Diese Frage hat sicher nicht nur die Nachbarn erschreckt. Sie hat auch mich als Leser getroffen.

Der überraschende Schluss ermöglicht noch einen ganz anderen Blick auf das Geschehen.

Die Geschichte hat mir ausgezeichnet gefallen. Der Autorin ist es gelungen, kurz und prägnant ein Stück Geschichte unter völlig neuem Gesichtspunkt darzustellen. Beide Darstellungsformen bilden ein Einheit. das Erleben des Kindes und die Erinnerungen einer alten Dame.