Rezension

Geisteraustreibung

Lügen über meine Mutter -

Lügen über meine Mutter
von Daniela Dröscher

Bewertet mit 4 Sternen

Was sich im Rückentext noch wie ein Dickenbashing der 80er Jahre ausnimmt, entpuppt sich über eine Zeitspanne von 4 Jahren, in denen Ela von ihren Kindheitserinnerungen berichtet, zunehmend zu einem Ehedrama in einem kleinen rheinland-pfälzischem Dorf.
Der Vater quittiert jeden seiner beruflichen Misserfolge mit der Behauptung, seine korpulente Frau sei nicht vorzeigbar und also schuld daran, ja, man müsste sich für sie schämen. Elas Mutter kämpft Diät um Diät um jedes Kilo. Doch sie hat wenig Rückhalt. Die Familie wohnt im Haus der Schwiegereltern, aber die Missgunst über die angeheiratete Pollacksfrau ist mit jeder Bemerkung zu spüren. Auch ihre eigenen Eltern haben wenig Kontakt zu ihr, da sie "unter ihrem Stand" geheiratet hat.

Warum diese lieblose Ehe zustande gekommen ist, kann man nur erahnen. Von Schwangerschaftsabbrüchen und geplatzen Träumen ist die Rede und der Vater sieht schließlich dem bewunderten Arzt sehr ähnlich. Aber auch der Vater ist einem Flirt nicht abgeneigt, hat er sich doch nach einem anstrengenden Arbeitstag das gesellschaftliche Dorfleben beim Tanzabend, oder Tennisturnier ohne seine Frau verdient.

Die Situation eskaliert, als die Mutter ungewollt mit einem Geschwisterchen schwanger wird, ihre Karriere an den Nagel hängt, aus Missgunst und Neid verklagt wird und schließlich ihre Mutter pflegen muss. Für das vernachlässigte Nachbarskind in Elas Alter ist sie zusätzlich da. Da verstirbt ihr Vater und sie wird beerbt. Was nun folgt ist eine Musterstudie in Geldverprassen. Ein Eigenheim wird gebaut, Autos gekauft, Urlaub gemacht. Die Mutter sitzt zuhause und kümmert sich, wie sehr, wird erst klar, als sie sich endlich die Freiheit nimmt und verschwindet. Die Quittungen liegen verstreut im Arbeitszimmer.

All diese Ereignisse sollen sich in 4 Jahren, von 1983 bis 1986, abgespielt haben. Sie sind aus Elas kindlicher Sicht geschildert und passen auch zur bundesrepublikanischen Geschichte, einschließlich Weight Watschers, Bum-Bum-Boris und Tschernobyl. Eingeleitet und auch immer wieder als Unterbrechung im Text, sind Passagen von Gesprächen die Daniela Dröscher mit ihrer Mutter geführt hat, psychologische Einschübe, Textfragmente der Autorin und schließlich Fragen der Autorin, die sie sich jetzt, nachdem sie sich alles von der Seele geschrieben hat, endlich stellen kann. Es ist eine Geisteraustreibung. Es ist der Versuch, sich aus dem Denkmuster der patriarchalen Gesellschaft der 80er Jahre zu befreien, die Ketten der Unterordnung, der freiwilligen Carearbeit, dem Auftrag die Familie vollständig aufrechtzuerhalten, Demütigungen zu ertragen und die eigenen Werte kleinzureden und vor allem, alles was man hat, bedingungslos zu opfern. Der Lohn wäre Anerkennung und Respekt,.... wenn es denn nicht noch all die alten Strukturen gäbe, die eine Frau mit nicht perfektem Aussehen zu Fall bringen könnten.

Ich las das Buch unter falschen Voraussetzungen, erwartete ich in der Hauptsache den Kampf um ein Idealbild der Frau. Doch geht dieser Roman weit über die Körperlichkeit hinaus und schneidet tief in die psychologische Selbstbehauptung einer Frau. Weder Bildung noch Geld hilft der Mutter aus der Falle und die Trennung entpuppt sich dann auch nur als weiterer Kompromiss, um den Schein vor der Dorfgemeinschaft zu wahren.

Mit Spannung verfolgte ich die Unverschämtheiten des Vaters, der alles in allem, als verkorkster Home-Macho rüberkam. Fassunglos las ich von den Reaktionen des Umfeldes, insbesondere den Schwiegereltern und der Nachbarin. Die Rückschläge der Mutter machten mich traurig.

Dieser Roman bringt alles mit, um sich ordentlich empören zu können. Deshalb konnte ich über Übertreibungen und lehrmeisterliche Einschübe hinwegsehen und meinen Frieden schließen mit dem schriftlichen Versuch einer Geisteraustreibung. Ich denke, dass das Buch ein Anstoß sein kann, um die eigene Erlebniswelt der damaligen Zeit in einem anderen, oder auch nur helleren Licht zu betrachten.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 08. September 2022 um 22:43

Hm. Kann ich durchaus verstehen, aber es ist too much.