Rezension

geisterhaftes Endzeitszenario mit viel Raum für Fantasie

Phantasmen - Kai Meyer

Phantasmen
von Kai Meyer

Zitat:
„Jenseits der Hafenanlagen schälten sich immer neue Hochhäuser aus dem fahlen Lichtersmog der Stadt. Aber es waren nicht die Bauten aus Stein und Stahl und Glas, denen auf einen Schlag unsere gesamte Aufmerksamkeit galt.
Es waren zwei Gebäude, die schon seit Jahren nicht mehr existierten. Zwei Gebäude, die jahrzehntelang Manhattans Downtown am unteren Ende der Halbinsel überragt hatten. Und innerhalb eines einzigen Tages ausgelöscht waren.
Nun waren sie wieder auferstanden, ein makabres Mahnmal über dem blassen Kadaver der Stadt. Zwei Türme aus Licht, hoch und schlank und strahlend weiß, zusammengesetzt aus Tausenden Lichtpunkten, die aus der Ferne zu riesenhaften Säulen verschmolzen.
Die Geister des World Trade Centers waren zurückgekehrt.“
(S. 293)

Inhalt:
Vor 18 Monaten hat sich die Welt verändert. Von einem zum nächsten Moment, exakt um 14:07 Uhr mitteleuropäischer Zeit, tauchten die ersten Erscheinungen auf. Geister von Verstorbenen. Parallel zu den neu Verstorbenen erscheinen auch die aus der Vergangenheit, die im selben Abstand zu Punkt 0 liegt.

Rains und Emmas Eltern sind vor 3 Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Die jungen Frauen konnten sich ausrechnen, zu welchem Zeitpunkt die Geister ihrer Eltern in der Wüste Spaniens auftauchen würden und machten sich auf die Reise. Mit was sie aber nicht rechneten: Von den 94 scheinbar Verunglückten fehlen zwölf. Zwölf Geister. Und noch etwas ist anders: Im Gegensatz zu den 18 Monaten davor, zeigt sich plötzlich ein Lächeln auf den Lippen der sonst ausdruckslosen Erscheinungen – was zum Tod eines Menschen führt. Rain und Emma entkommen nur knapp der Reichweite der Geister. Und befinden sich kurz darauf auf der Flucht.

Meinung:
Nachdem Kai Meyer bereits vor der Veröffentlichung von „Phantasmen“ ein paar Details zum Roman verriet, konnte das Buch selbst natürlich nicht lange ungelesen liegen bleiben und so stürzte ich mich – ohne genau zu wissen, was mich erwartet – in die Geschichte.

Sofort umgriff mich die unglaublich neugierig machende Atmosphäre mit so vielen angedeuteten Geheimnissen, die es zu entschlüsseln galt. Ich konnte nicht anders, musste mehr darüber herausfinden, musste wissen, was auf der Welt und auch in Rains Vergangenheit geschehen ist.
Schnell war ich dem Bann des Buches verfallen, hastete durch die Seiten, stets Details aufsaugend. Ich bekam Häppchen vorgesetzt, Geister, verdrängte Erinnerungen an Afrika und eine Schwester, die anders zu sein scheint.

Erst Kapitel für Kapitel kristallisierte sich heraus, wie sich die Welt in den letzten 18 Monaten verändert hatte. Die erste Geistersichtung, neue Verstorbene erscheinen ebenfalls sofort als Geister. Zeitgleich mit ihnen auch die im selben Zeitraum vor der ersten Sichtung.

Die Eltern von Protagonistin Rain sind vor drei Jahren bei einem Flugzeugabsturz gestorben – das Datum ihrer „Rückkehr“ ist nicht schwer zu berechnen. So warten Rain und ihre Schwester Emma auf den Moment – weit abseits der Menschen und Geistermassen – in der Wüste Spaniens. Doch es „fehlen“ 12 Geister. Und ziemlich schnell sind Rain und Emma gemeinsam mit Tyler, der ebenfalls auf die „Rückkehr“ wartete, einer Verschwörung auf der Spur.

Meine erste Begeisterungswelle endete dann mit dem ersten Teil des Buches, als die ersten Erklärungen kamen. Nun brannte mir zwar noch die ein oder andere Frage im Kopf, die geheimnisvolle, mysteriöse Atmosphäre war jedoch verflogen und wich Flucht, Verfolgung und Action. Diese trieben mich zwischen Geisterszenarien hindurch, die mir des Öfteren das Gefühl vermittelten, dass den Charakteren absichtlich Steine in den Weg gelegt wurden, wohingegen sich an anderer Stelle vermeintlich ausweglose Situationen nahezu ins Nichts auflösten. Dies störte mein Lesefluss etwas und mein Spannungsempfinden sank zunehmend.

Protagonistin Rain blieb trotz Ich-Perspektive vollkommen auf Distanz. Die geschilderte Vergangenheit wirkte auf mich zu gestellt, kam einfach nicht bei mir an. Mein Favorit war eindeutig Rains Schwester Emma. Vom ersten Eindruck an war sie für mich interessant, ich wollte mehr über sie und ihre „Andersartigkeit“ erfahren. Welche Höhe diese dann erreichte, konnte ich zu dem Zeitpunkt natürlich nicht erahnen.
Die weiteren Charaktere, beispielsweise Tyler, bleiben ebenfalls recht farblos. Seine Intentionen waren mir bewusst, fühlen konnte ich jedoch nichts. Daher konnten die sich anbahnenden Gefühle auch nicht ihre volle Wirkung auf mich entfalten.

Trotz dieser Kritikpunkte konnte mich Kai Meyer mit der tollen Grundidee und dem gewohnt fantastischen Schreibstil an seine Geschichte binden. Selbst die schwierigsten Beschreibungen kommen ohne Schnörkel oder blumige Details aus, die Sprache bleibt klar und flüssig zu lesen. Die Zeitform der Ich-erzählenden Protagonistin fällt ab und an aus der Vergangenheit ins Präsens, sie gibt sogar kurze Einblicke in die Zukunft, was am Ende der Geschichte dann durchaus seine Berechtigung hat. Insgesamt gesehen lässt „Phantasmen“ viel Raum für Spekulation und gibt keine direkten Antworten auf Grundsatzfragen, was die eigene Fantasie zu Höhenflügen antreibt. Ein einziger Satz, der alles bisher Geglaubte in neuem Licht erscheinen lässt. Absolut genial.

„Phantasmen“ übt insbesondere im ersten Drittel eine wahnsinnige Faszination aus. Ich gierte nach Antworten, nach Erklärungen für dieses erschreckende Endzeit-Szenario. Mit den ersten Antworten stagnierte der Spannungsbogen und fiel stellenweise sogar ab, ehe er gen Showdown wieder auf das anfängliche Niveau klettern konnte. Dieser finale Spannungsaufbau wurde dann für meinen Geschmack zu abrupt aufgelöst. Dasselbe gilt für das Ende der Geschichte, das zwar sehr passend ist, aber mir nicht das Gefühl vermittelte, „Phantasmen“ völlig zufrieden zu schließen.

Urteil:
Kai Meyers geisterhaftes Endzeitszenario zieht den Leser von der ersten Seite an in seinen Bann. Leider löste sich dieser mit steigender Seitenzahl immer weiter auf. Die fantastische Grundidee und nicht zuletzt Kai Meyers toller Schreibstil verschafften „Phantasmen“ jedoch noch ganz knappe 4 Bücher.

Wer ein etwas anderes Endzeitszenario erleben will, sollte unbedingt in „Phantasmen“ hineinlesen. Euch muss aber bewusst sein, dass ihr nicht für alles eine Erklärung vorgesetzt bekommt.

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