Rezension

…gelungene Anthologie mit vielschichtigen Texten von Kästner über „sein“ Berlin!

Sonderbares vom Kurfürstendamm - Erich Kästner

Sonderbares vom Kurfürstendamm
von Erich Kästner

Berlin und ich: Wir stehen uns sehr zwiespältig gegenüber. Irgendwie wurden wir nie richtig miteinander warm. Bei meinem ersten Besuch der Stadt kurz nach dem Mauerfall schlenderte ich über den Kurfürstendamm und wollte – ganz Touri – einen Blick ins Kaufhaus des Westens werfen. In einem Buchladen am Ku’damm fragte ich die Verkäuferin beim Bezahlen an der Kasse, in welche Richtung ich mich zum KdW wenden müsste. Mich traf ein abschätziger Blick und im breitesten Berlinerisch bekam ich als Antwort „Imma de Menschenmasse nach!“. Berliner Schnauze und Norddeutscher Fischkopp scheinen mir wenig kompatibel.

Doch für viele – besonders den Kunstschaffenden – hat/hatte Berlin eine schier magische Anziehungskraft. So verschlug es auch den aufstrebenden Jungschriftsteller Erich Kästner im Jahre 1927 vom beschaulichen Leipzig in die pulsierende Metropole, und er verdingte sich seine ersten Sporen mit Veröffentlichungen von Gedichten, Glossen und Rezensionen in unterschiedlichen Tageszeitungen sowie Kritiken für das Magazin „Die Weltbühne“. Die Jahre zwischen 1927 und 1933 gelten als seine produktivste Zeit, in der er zu einer der wichtigsten intellektuellen Figuren Berlins aufstieg und in der neben den schon genannten Publikationen auch „Emil und die Detektive“, „Pünktchen und Anton“ und „Das fliegende Klassenzimmer“ entstanden. Die Texte aus dieser Zeit spiegeln auch den Lebenshunger der Berliner wieder: Authentisch beschreibt er die Kabaretts und Revuen, das schillernde Volk in den Bars und Vergnügungstempeln, aber auch das zweifelhafte Amüsement für die einfachen Leute in Form eines Rummelplatzes im Hinterhof. Auch Auszüge aus „Emil und die Detektive“ und „Pünktchen und Anton“ dürfen in dieser Berliner „Chronik“ nicht fehlen. Zwischen seinen Zeilen spürt der Leser den pulsierenden Herzschlag einer Stadt: Kästner schrieb über Triviales ebenso ernsthaft, wie er über Erhabenes spottete. Seine Gedichte sind schelmisch, ironisch aber auch durchaus poetisch zart. Große Persönlichkeiten der Theater- und Kultur-Szene finden in seinen Rezensionen Erwähnung. Die Informationen des Anhangs offenbaren die Tragik: Die meisten von ihnen mussten entweder emigrieren oder fielen der Tötungsmaschinerie der Nazis zum Opfer.

In den Jahren von 1933 bis 1945 war Kästner zur Untätigkeit verdammt: Den Nationalsozialisten war er als liberal-denkender Literat suspekt. Seine satirisch formulierten gesellschafts- und zeitkritischen Werke galten „wider den deutschen Geist“ und wurden bei der öffentlichen Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 verbrannt. Trotz massiver Repressalien, wie Verhöre bei der Gestapo, Berufsverbot und Ausschluss aus dem Schriftstellerverband, blieb Kästner in Berlin: Er sah sich als Chronist dieser Zeit und führte ein geheimes Tagebuch über die damaligen Geschehnisse. Die Texte aus diesen Jahren erschüttern! Die Gedichte und Aufzeichnungen zeugen von der Absurdität nationalsozialistischem Gedankengut, oder um es mit Kästners eigenen Worten zu beschreiben:

„Gut und Böse, unwandelbare Maßstäbe des menschlichen Herzens, wurden durch Gesetz und Verordnung ausgetauscht. […] Wer unschuldige Menschen umbrachte, wurde befördert. Wer seine menschliche oder christliche Meinung sagte, wurde geköpft oder gehängt.“

Über „Berlin nach 1945“ schrieb Kästner keine einzige Zeile

Herausgeberin Sylvia List hat eine abwechslungsreiche Sammlung an Texten aus dem Œuvre von Erich Kästner zusammengestellt, die einen gelungen Bogen schlagen von „Babylon Berlin“ zu „Berlin in Trümmern“. Mit dieser Anthologie beweist sie abermals, was jedem Leser von Kästners Werken durchaus schon bewusst ist:

Kästner amüsiert, Kästner kritisiert, und er unterhält auf hohem Niveau!